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Malalai Joya aus Afghanistan: »Es ist Krieg gegen unschuldige, normale Leute«

Seit Beginn der westlichen Besatzung hat sich die Situation für die ­afghanische Bevölkerung kontinuierlich verschlechtert. Claudia Wrobel beleuchtet im Gespräch mit Malalai Joya die Situation der Menschen in Afghanistan.
Malalai wurde im Jahr 2005 als jüngste Politikerin Afghanistans in die Nationalversammlung gewählt. 2007 wurde sie ihres Amtes enthoben, da sie konsequent gegen die herrschenden Machtverhältnisse in Afghanistan eintrat. Seitdem führt sie ihren Kampf außerhalb des Parlaments weiter.


In Deutschland werden immer wieder Stimmen laut, Afghanistan solle als »sicheres Herkunftsland« eingestuft werden. Geflüchtete hätten so faktisch gar keine Chance mehr auf Asyl. Aber wie ist die Situation in Ihrem Land wirklich?
Solche Aussagen können nur unehrliche Politiker treffen, die ihre eigenen Interessen durchsetzen wollen. In den 15 Jahren der Besatzung und westlichen Intervention in Afghanistan ist das Land nur für eine Gruppe zu einem »sicheren Hafen« geworden: für Terroristen. Die Taliban wurden abgelöst von fundamentalistischen Warlords, die ihr Geld durch Drogenhandel verdienen. Millionen Menschen leiden unter Unsicherheit, Korruption, Erwerbslosigkeit, Armut. Die Rechte aller Menschen, aber insbesondere von Frauen, werden beständig verletzt. Die Besetzer und die Fundamentalisten teilen sich die Macht in dem Land. Sogar in Kabul, wo es eine hohe Präsenz von Militärs gibt, die uns angeblich beschützen sollen, ist es sehr gefährlich – auch und gerade für Zivilisten. Denken Sie nur an den Anschlag vor wenigen Tagen. In den ländlichen Gebieten sieht es noch schlimmer aus. Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben der UN etwa 3.500 Zivilisten getötet, 7.500 wurden verletzt.

Welche Strategie verfolgen die westlichen Besatzungsmächte in Ihrem Land?
Die USA und die NATO haben natürlich eigene politische und wirtschaftliche Ziele. Da geht es unter anderem darum, in der Region überhaupt mit soviel Militär vertreten zu sein. Auch die deutsche Bundesregierung ist der falschen Politik der USA in den vergangenen 15 Jahren stets gefolgt. Sie alle unterstützen die Warlords und damit auch den Anbau von und Handel mit Drogen. Ich habe ein Foto, wie Angela Merkel mit einem von ihnen Tee trinkt. Mittlerweile ist er Gouverneur, aber seine Vergangenheit, seine Verbindungen und die Herkunft seines Geldes sind weithin bekannt. Seit 15 Jahren wird der Einsatz in Afghanistan von den westlichen Besatzern »Krieg gegen Terrorismus« genannt, aber in Wahrheit ist es ein Krieg gegen unschuldige, normale Leute.

Wie hat sich das Land dadurch verändert?
Es ist mittlerweile ein Zentrum der Drogen. Mehr als 90 Prozent der weltweiten Opiumproduktion stammen aus Afghanistan. Außerdem ist das Land durch und durch korrupt. Milliarden US-Dollar kamen von der sogenannten internationalen Gemeinschaft – für Bildung, den Wiederaufbau, Waisenbetreuung. Das meiste Geld ist aber in die Taschen von Warlords geflossen. Und Afghanistan ist heute der schlimmste Ort auf Erden für Frauen. Verschiedene Quellen berichten von einer Zunahme häuslicher Gewalt, von Vergewaltigungen und Steinigungen. Frauen werden die Ohren und die Nase abgeschnitten, sie werden mit heißem Wasser verbrüht oder mit Säure verletzt.
Trotzdem haben Afghanen, die in Europa Schutz suchen, einen schweren Stand, und die europäischen Regierungen tun alles, um sie nicht reinzulassen oder abzuschieben.
Und das kann ich nicht verstehen. Die deutsche Bundesregierung will nur noch Syrer aufnehmen und keine Afghanen mehr – aber beide Länder sind besetzt, und dort zu leben ist sehr gefährlich. Verschiedene Mächte und Fundamentalisten versuchen in beiden Ländern, ihre eigenen Interessen durchzusetzen, ohne Rücksicht auf die Bevölkerung. Schauen Sie sich Afghanistan, Syrien oder auch den Irak an: Wir haben die gleichen Probleme, die gleichen Feinde. Die Menschen verlassen ihre Heimat nicht, nur um woanders ein einfaches Leben zu führen – sie haben Todesangst.

Wie ergeht es Menschen, die zurückkehren müssen, weil sie nach Afghanistan abgeschoben wurden?
Sie haben nichts mehr, denn alles, was sie besaßen, mussten sie verkaufen, um die Flucht zu bezahlen. Jetzt haben sie wenige Möglichkeiten. Entweder sie schließen sich einer der Terrorgruppen, etwa dem IS, an. Dann verdienen sie 500 bis 600 US- Dollar im Monat. Zum Vergleich: Ein Lehrer erhält rund 200 US-Dollar im Monat, aber manchmal dauert es Monate, bis das Gehalt gezahlt wird, wenn es überhaupt kommt. Viele werden auch drogenabhängig. Etwa vier Millionen Menschen sind drogensüchtig. Viele von ihnen sind nicht mal 20 Jahre alt.

Was erwarten Sie von westlichen Regierungen, um wirklich zu helfen?
Die Soldaten müssen unser Land besser heute als morgen verlassen. Demokratie kann nicht durch eine militärische Besatzung herbeigeführt werden.

Interview aus der Jungen Welt vom 21.04.2016, Seite 2 / Ausland