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Falludscha: Die Stadt wurde ausgehungert und bombardiert

Juni 2016 : Zehntausende sind auf der Flucht.
Die irakische Stadt Falludscha steht nun wieder in den Schlagzeilen. Am 20. Juni 2016 berichtete ZEIT ONLINE dass in einer Offensive der irakischen Armee Zehntausende Menschen aus der Stadt vertrieben wurden und nun in einem angrenzenden Flüchtlingscamp ausharren. 30.000 Geflüchtete könnten nach Angaben der Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council in den letzten Tagen im Camp angekommen sein. Das UNHCR schätzt, dass in den vergangenen vier Wochen 84.000 Menschen fliehen mussten. Im Lager befinden sich rund 62.000 Menschen. Die humanitäre Lage ist bei sengender Hitze und Wassermangel katastrophal.
Vor rund vier Wochen begann die militärische Offensive. Am 17. Juni 2016 sollen irakische Regierungskräfte in das Stadtzentrum vorgedrungen sein. Der irakische Regierungschef Haider al- Abadi erklärte die Stadt für befreit. Die Kämpfe gingen jedoch weiter. Am 26. Juni ging durch alle Medien, dass Falludscha nun endgültig zurückerobert wurde.

Der Autor und Friedensaktivist Joachim Guilliard klärt auf seiner Web-Seite, Anfang Juni 2016, in einem gut recherchierten Bericht über Hintergründe und Ursachen der Auseinandersetzungen um Falludscha auf.

Hier nun eine Zusammenfassung des Artikels:
Falludscha erneut unter Belagerung - Die Stadt wird ausgehungert und bombardiert


Großangriff der US- Armee 2004
Falludscha ist vermutlich die irakische Stadt, die am stärksten unter Krieg und Besatzung leiden musste. Im November 2004 wurde die Stadt durch einen Großangriff vom US-Militär stark zerstört. 70 % aller Gebäude wurden verwüstet. (36.000 Wohnhäuser, 8400 Geschäfte, 60 Schulen, 65 Moscheen, Abwasseranlagen, Trinkwasser-und Telefonsystem)
Das US-Militär setzte die verheerenden Uranwaffen und geächtete Phosphorbomben ein. Die Zahl der Opfer wird vom „Studienzentrum für Menschenrechte und Demokratie in Falludscha“ (SCHRD) auf 4.000 bis 6.000 geschätzt.

Der Widerstand der sunnitischen Bevölkerung und ISIL wird dominierende Kraft
Seit Januar 2014 steht die Stadt erneut unter Beschuss. Der Hintergrund hierfür ist, dass sich die sunnitische Bevölkerung gegen die systematische Ausgrenzung und Unterdrückung durch die von den USA geschaffene, von Schiiten dominierte Regierung wehrte. Die breite zivile Protestbewegung wurde im Laufe des Jahres 2013 blutig niedergeschlagen und war in vielen sunnitischen Provinzen in einen bewaffneten Widerstand übergegangen. Im Dezember 2013 stürmten Regierungstruppen ein großes Protestcamp im Zentrum von Falludscha und richteten dabei ein Blutbad unter den friedlichen Demonstranten an. Danach bildete die Stadt einen militärischen Rat und übernahm die Kontrolle.
ISIL (Einheiten des „Islamischen Staates im Irak und der Levante“) versuchten die Situation auszunutzen, wurden jedoch an den Stadtrand zurückgedrängt. Von der International Crisis Group wurde berichtet, dass die Bürger Falludschas nichts für ISIL übrig hatten. Die Regierung Nuri Al-Maliki weigerte sich dennoch mit den Repräsentanten der Stadt Verhandlungen aufzunehmen. Stattdessen ließ sie die mehr als 300.000 Einwohner unter Beschuss nehmen. Das führte dazu, dass die Dschihadisten von ISIL, die ebenso wie die aufständische Stadtbevölkerung gegen die irakischen Regierungstruppen kämpften, mit der Ausweitung der Kontrolle über große Teile des Westiraks auch in Falludscha zur dominierenden Kraft wurden.

Belagerung, Hunger und Tod
Im Dezember 2015 riegelten Regierungstruppen und schiitische Milizen mit Unterstützung der US-Armee die letzten Versorgungswege der Stadt ab. Während die Vorräte an Nahrungsmitteln und Medikamenten zu Ende gingen, hinderte ISIL (arabisch Daesh) die Menschen daran die Stadt zu verlassen. Die Chefin der UN-Mission im Irak Lise Grande teilte Anfang April 2016 mit, „ bis zu 50.000 Bewohner sehen sich Hunger und Tod gegenüber.“ Human Rights Watch (HRW) forderte die Abriegelung der Stadt umgehend aufzuheben und verlangte generell mehr Aufmerksamkeit für die Menschen in belagerten Städten der Region. Das Kriegsrecht untersage nicht die Einkesselung feindlicher Truppen, so HRW, sie verbiete aber das Aushungern der Zivilbevölkerung. Dies sei ein Kriegsverbrechen.

Anhaltende Luft -und Artillerieangriffe
Seit über zwei Jahren wird das Leben der Menschen akut durch anhaltende Bombardierungen der Regierungstruppen und Milizen bedroht. Immer wieder werden dabei zivile Einrichtungen zerstört. Unter anderem wurden etliche Krankenhäuser von Bomben getroffen. Die US-Luftwaffe beteiligt sich an den Angriffen und ist ebenfalls für die Tötung zahlreicher Zivilisten verantwortlich. Nach Veröffentlichungen von HRW berichteten Mediziner aus Falludscha, dass zwischen Januar 2014 und März 2016 insgesamt 3455 Zivilisten und Kombattanten durch Luft-und Artillerieangriffe getötet und 5769 verwundet wurden. Der Chef des Zentralkrankenhauses Falludscha gibt an, dass bereits bis Juli 2015 8488 tote oder schwer verwundete Zivilisten registriert wurden.

Kriegsverbrechen nach der Befreiung von ISIL
In anderen Städten gelang es der irakischen Armee die Unterstützung einiger sunnitischer Stämme im Kampf gegen die Dschihadisten zu gewinnen. In Falludscha verweigerten jedoch alle Stämme jeglichen Kontakt, da sie die schiitische Regierung in Bagdad als den größeren Feind ansehen. Am meisten gefürchtet sind dabei die schiitischen Milizen, die im Kampf gegen ISIL (Daesh) die größten Einheiten bereitstellen.
In Ortschaften, die von Daesh befreit wurden, nahmen sie Rache an der dort verbliebenen Zivilbevölkerung. Beispielhaft hierfür ist Tikrit, die Hauptstadt der Provinz Salah Al-Din. Sie war in einer Großoffensive unter Beteiligung von US-Kampfflugzeugen im März 2015 zurückerobert worden. Schiitische Milizen stellten zwei Drittel der Bodentruppen. Unmittelbar nach dem Abzug der letzten Einheiten von Daesh begannen Racheaktionen gegen die Bevölkerung. Ahmed Al Krayam, der Vorsitzende des Provinzrates von Salah Al-Din berichtete im April 2015 gegenüber Reuters: „In Tikrit herrscht Chaos, die Lage ist außer Kontrolle - Polizei und Behörden können die Milizen nicht aufhalten.“ Nach Recherchen von HRW wurden dabei mindestens 950 Wohnhäuser und 95 Geschäfte „ vorsätzlich und ohne militärischen Grund gesprengt oder niedergebrannt." Von mehr als 200 verschleppten Bewohnern, darunter auch Kinder, fehlt jede Spur.

Kriegseskalation in Falludscha und die Oppositionsbewegung in Bagdad
Seit dem 23. Mai 2016 wurde der Belagerungsring um die Stadt Falludscha enger gezogen. Über 20.000 Soldaten, Spezialeinheiten und schiitische Milizen stehen dem Angriff auf Falludscha zur Verfügung. Eingebettet in irakische Elitetruppen steuern US-Berater die Luftangriffe.
In Bagdad entwickelt sich unterdessen eine starke oppositionelle Bewegung, die sich gegen die unter US-Besatzung gebildete Regierung wendet. Ziel ist es unter anderem der sektiererischen Ausrichtung und der Spaltung des Landes entlang ethnischer und konfessioneller Linien entgegenzuwirken.
Weder die Regierung in Bagdad, noch die internationale „Anti-IS-Allianz“ bemühen sich um eine klare Trennung zwischen Dschihadisten und aufständischen sunnitischen Kräften. Experten vom Nahostteam International Crisis forderten schon zu Beginn der Auseinandersetzungen eine eindeutige Unterscheidung der Konfliktparteien.
Wer ISIL tatsächlich besiegen will, muss dafür sorgen, dass die legitimen politischen Anliegen der Sunniten erfüllt und deren Interessen in Bagdad adäquat vertreten werden.



Alle Quellen werden im Originaltext Falludscha erneut unter Belagerung - Die Stadt wird ausgehungert und bombardiert angegeben.