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Warum ich vor der russischen Botschaft nicht demonstriert habe

Prof. Mohssen Massarrat
Offener Brief an Navid Kermani anlässlich seiner Kritik an der Friedensbewegung im Deutschlandfunk v. 24.12.2016

Lieber Navid Kermani,

Sie haben mit Ihren wunderbaren Büchern und vor allem Ihren
großartigen Reden anlässlich 65 Jahre Grundgesetz im Mai 2014 im
deutschen Bundestag und bei der Verleihung des Friedenspreises des
deutschen Buchhandels im Oktober 2015 unter Beweis gestellt, dass Sie
wie kaum ein anderer Schriftsteller in Deutschland höchst sensibel und
feinfühlig zu vielen wichtigen Zeitfragen Stellung beziehen. Durch Ihr
Eintreten für Völkerverständigung und interkulturelle Koexistenz sind Sie
in Deutschland zu einer moralischen Instanz geworden. Umso
befremdlicher empfand ich Ihre Unterstellung im Interview mit dem
Deutschlandfunk, die Friedensbewegung habe für Putin Verständnis,
weil sie wegen des russischen Kriegseinsatzes in Aleppo nicht vor der
russischen Botschaft demonstriert habe. Wie Sie sicherlich wissen, ich
gehöre zur Friedensbewegung, und ich habe weder dazu aufgerufen,
noch vor der russischen Botschaft gegen Russland demonstriert. Ich will
Ihnen auch sagen, warum:
Doch um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich zunächst drei
Bekenntnisse abgeben: erstens ist mir nicht verborgen geblieben, dass
Russland und Iran, die auf der Seite des Assad-Regimes in den Krieg
eingetreten sind, ihre eigenen Interessen und strategischen Ziele
verfolgen. Zweitens habe ich persönlich den Gewalteinsatz im
Syrienkrieg von Beginn an für falsch gehalten und kritisiert: den
Gewalteinsatz von Assad gegen die friedlichen Demonstranten, die
gegen die Diktatur auf die Straße gegangen waren genauso, wie gegen
die Waffenlieferungen des Westens an die angeblich moderaten
Rebellen und gegen die Luftangriffe der USA und alle darauf folgenden
Kriegshandlungen. Drittens halte ich Präsident Putin für einen autoritären
Herrscher, der für das Regieren in Russland zu undemokratischen
Mitteln greift. Gleichwohl aber ist er der gewählte Präsident einer
nuklearen Supermacht, der nur vom russischen Volk in freier Wahlen
abgesetzt werden kann, genauso wie auch Assad, der legaler Präsident
Syriens ist und nur durch das syrische Volk abgewählt werden kann.
Sie halten offensichtlich die militärische Unterstützung des Assad-
Regimes durch Russland und Iran für inakzeptabel. Soweit ich mich
entsinnen kann, hatten Sie bei Ihrer mitreißenden Rede in der
Frankfurter Paulskirche im Oktober 2015, der ich beiwohnen durfte, die
Weltgemeinschaft aufgerufen, den Syrienkrieg mit diplomatischen Mitteln
– und wenn nötig auch militärisch - zu beenden. Lieber Herr Kermani,
Russland und Iran haben genau das getan, also zunächst mit Diplomatie
und dann, als sie diesen Weg für aussichtslos hielten, militärisch den
Krieg zunächst einmal in Aleppo beendet. Deshalb kann ich Sie nicht
verstehen, warum Sie jetzt meinen, Russland tadeln zu müssen und
warum Sie die Friedensbewegung anmahnen, sich gegen Russland zu
positionieren. Es könnte ja sein, dass Sie den Konfliktverlauf in Syrien
mit der notwendigen Differenzierung selbst nicht verfolgt und sich auf die
meist leider nur allzu häufig verzerrten Darstellungen westlicher Medien
verlassen haben. Deshalb möchte ich Ihnen einige Fakten in Erinnerung
rufen:
Nach dem Beginn des Syrienkonflikts hat sich Russland zunächst nicht
eingemischt, solange dieser Konflikt noch als ein rein innenpolitischer
Konflikt angesehen werden musste. Erst nachdem die IS-Terroristen aus
Irak, Tschetschenien und Syrien selbst begannen, den anfänglichen
Fehler Assads, auf die friedlichen Demonstranten zu schießen, für die
Errichtung des Khalifats auch Syrien zu missbrauchen, und als dann
Saudi Arabien, die Golfstaaten und die Türkei anfingen, diese
Terrorbanden auch noch mit Waffen, Geld und Logistik zu unterstützen
und offen für den Sturz des Assadregimes in den internen Konflikt
massiv einzugreifen, ist Russland auf der Seite der syrischen Regierung
eingetreten, weil es befürchtete, es ginge hier eindeutig um einen regime
change und um einen damit einhergehenden Verlust des russischen
Militärstützpunkts im Mittelmeer. Als in diesem Krieg auch chemische
Waffen eingesetzt wurden, war es Russland und kein anderer Staat, der
mit diplomatischem Geschick den Vorfall dazu nutzte, dass sämtliche
Chemiewaffen Syriens unter Mitwirkung der USA und der Kontrolle der
UN vernichtet wurden.
Ob tatsächlich die syrischen Militärs die Chemiewaffen eingesetzt hatten
oder die Rebellen, ist bis heute nicht geklärt. Präsident Obama hatte
nämlich den Chemiewaffeneinsatz als rote Linie der USA für ihren
Kriegseintritt gegen Assad genannt. Ist es aber vorstellbar, dass dann
ausgerechnet Assad selbst so dumm und dreist gewesen wäre, um vor
den Augen der Weltöffentlichkeit selbst und eigenhändig den
Kriegsgrund für die USA zu liefern und sein eigenes Todesurteil zu
signieren? Viel logischer erscheint dagegen aber, dass die von außen
mit allen Waffengattungen gefütterten Terroristen Chemiewaffen
einsetzten, um dies dem Assad Militär anzulasten und die USA zum
Kriegeintritt in Syrien zu bewegen. Zum Glück war Präsident Obama in
diesem Fall stark und klug genug, um trotz großen Drucks der
Neokonservativen im Senat in diese Falle nicht hinein zu tappen. So
oder so war die Bemühung Russlands, die Massenvernichtungswaffen
Syriens abzurüsten, eine friedenspolitische Meisterleistung, die nicht
genug gewürdigt werden kann. Kennen Sie, Herr Kermani, aber eine
positive Reaktion der Regierungen und Medien des Westens auf diesen
zweifelsohne außergewöhnlichen russischen Abrüstungsbeitrag?
Der Bundeswehrgeneral und ehemalige Vorsitzender des Nato-
Militärausschusses Harald Kujat, konstatierte ganz zu Recht, dass durch
den Kriegseintritt Russlands die Genfer Syrienkonferenz überhaupt erst
möglich geworden ist. Russland hat sich darüber hinaus auch große
Mühe gegeben, um den Syrienkrieg diplomatisch und auf dem
Verhandlungswege zu beenden. Aber die westlichen Verbündeten,
Saudi Arabien, die Golfstaaten, Israel und vor allem die bewaffneten
Rebellen waren es, die jegliche Verhandlungen mit Assad ablehnten und
seinen Sturz zur Vorbedingung für Verhandlungen machten. Dem
Westen und den USA fehlte offensichtlich der Willen, ihre Krieg und
Unruhe stiftenden Verbündeten zu einer Verhandlung mit Assad zu
zwingen. Die USA selbst haben übrigens ihr Ziel einer
Übergangsregierung in einem Syrien ohne Assad nie aufgegeben. Dabei
müsste es jedem Politiker mit Weitsicht und Verstand sonnenklar
gewesen sein, dass Assad überhaupt nicht zurücktreten kann, selbst
wenn er wollte. Man hat es im Westen nie verstanden oder verstehen
wollen: In Syrien ging es schon lange nicht um die Herrschaft einer
Familie oder eines Clans, es geht dort und gerade auch um die
Sicherheit der sozialen und politischen Träger seines Regimes.
Assad repräsentiert sämtliche religiösen Volksgruppen und
Minderheiten, insbesondere Aleviten, Christen, Yeziden und andere in
Syrien, die sein Regime wegen seines erklärten Laizismus unterstützten
und von ihm auch erwarteten, nicht einfach mir nichts Dir nichts das Feld
zu räumen und es dem IS zu überlassen mit der sicheren Aussicht einer
dann zu erwartenden Massenabschlachtung der religiösen Minderheiten
und Aleviten.
Russland und Iran haben beide Vorschläge für mehrtägige Waffenruhen
in Aleppo immer wieder akzeptiert, während die Rebellen die Waffenruhe
für ihre weitere Aufrüstung missbrauchten. Wenn man wie Sie, Herr
Kermani, bereit ist, einen Militäreinsatz zur Beendigung eines Krieges
hinzunehmen, dann hatten Russland und Iran - unter den gegebenen
Bedingen der militärischen Logik folgend - keine andere Wahl gehabt,
als mit aller Härte und so schnell wie möglich die verhandlungsunwilligen
Rebellen zu einer militärischen Niederlage zu zwingen und weiteres
Blutvergießen umgehend zu beenden. Freilich ist dabei mehr als zu
beklagen, dass Zivilisten getötet wurden, Krankenhäuser und andere
zivile Einrichtungen zerstört wurden. Selbstverständlich müssten
Kriegsverbrechen, von welcher Seite auch immer, geahndet und die
Schuldigen vor den Internationalen Gerichtshof gestellt werden. Auch bei
der Evakuierung der Rebellen durch syrische, iranische und russische
Militärs haben wir in den hiesigen Medien immer nur von einer
schuldigen Kriegspartei gehört: Russland und Iran. Als aber die Rebellen
für jedermann ersichtlich 8 syrische Busse, die zur Evakuierung der
Rebellen und ihrer Familien gekommen waren, in Brand geschossen
haben, waren die selben Medien plötzlich sprachlos, es gab kaum
Berichte darüber, warum die Rebellen diese Tat begangen haben.
Wenige Tage nachdem die Evakuierung Aleppos als beendet erklärt
wurde, haben bei ihrem Treffen in Ankara Russland, die Türkei und Iran
eine Garantie dafür angeboten, dass ab jetzt der Syrienkonflikt auf
diplomatischem Wege und durch Verhandlungen beendet werden sollte.
Kennen Sie, lieber Herr Kermani, irgendeinen westlichen Politiker, der
sich bemüht hätte, Wladimir Putin, Hassan Rouhani und Recep Tayyib
Erdogan beim Wort zu nehmen und ihr Garantieangebot, ja
Garantieangebot als wichtig und konstruktiv hervorzuheben? Westliche
Politikerinnen und Politiker scheinen nicht in der Lage gewesen zu sein,
auf solche friedenspolitisch sehr wichtigen Signale zu reagieren.
Lieber Navid Kermani, mich stört auch sehr, dass Sie nur beiläufig davon
reden, dass im Syrien-Konflikt „auch der Westen indirekt durch seine
Freundschaft, durch seine Kooperation mit den Golfstaaten“ mitwirke. Ich
kann diese Relativierung des westlichen Beitrages nicht nachvollziehen,
wo die Fakten doch ziemlich eindeutig sind. Der Nahostexperte Michael
Lüders, dem man nicht eine Parteinahme für nur eine Seite unterstellen
kann, nennt die US-Regierung mit George W. Bush für die
Hauptverantwortliche auch des Syrienkrieges, weil sie mit dem Einfall in
den Irak unmittelbar die Entstehung des IS ausgelöst hat. Lüders, der
diese These in zahlreichen Artikeln und Talkshows immer wieder
vorgetragen hat, wurde bisher von niemandem widersprochen. Die USA
und Deutschland haben Saudi-Arabien, den Hauptwaffenlieferanten des
IS und anderer Terrorgruppen, die am Syrienkrieg beteiligt sind, seit
2010 mit über 130 Milliarden Dollar massiv aufgerüstet und damit einem
gefährlichen Wettrüsten im Mittleren Osten kräftigen Aufschub erteilt.
Mir scheint, lieber Herr Kermani, dass Sie generell die Kriegspolitik des
Westens, vor allem der US-Neokonservativen, die diese seit der
Regierungsübernahme von George W. Bush und auch noch in der
Opposition zu Obamas Regierung konsequent verfolgen, mehr oder
weniger so gut wie nicht in Betracht ziehen. Der katholische Theologe
Eugen Drewermann hat diese Politik kürzlich in einem Interview auf den
Punkt gebracht: „Bereits 1991 stellte Paul Wolfowitz, Berater mehrerer
US-Präsidenten und späterer Weltbankchef, eine höchst korrupte
Persönlichkeit, die Agenda auf, die jetzt abgearbeitet wird: wie man den
Irak und Syrien zerstört, wie man Libanon, die Hisbollah destabilisiert,
Libyen angreift, den Iran dazwischen nimmt. Man kann von Glück sagen,
dass Obama gegen Ende seiner Amtszeit diesen Spuk beendete, hatten
doch die Israelis alle paar Tage damit gedroht, der angeblichen
atomaren Gefahr, die vom Iran ausgehe, durch einen Großangriff zu
begegnen.“ (www.jungewelt.de/2016/12.14/069.php)
Ich kann verstehen, dass Sie einen anderen Zugang zum Verständnis
der komplexen Weltprobleme haben, jedoch überhaupt kein Verständnis
für Ihre einseitige pro-westliche und anti-russische Parteinahme wider
besseren Wissens. Wenn ich Sie hier wegen Ihrer sehr problematischen
Anwürfe an die Adresse der Friedensbewegung vehement kritisiere,
dann vor allem deshalb, weil Ihr Wort ein völlig anders Gewicht in der
öffentlichen Wahrnehmung hat als das Wort irgend eines x-beliebigen
embedded journalist, der sich an der verzerrten und verharmlosenden
Darstellung der westlichen Kriegs- und Rüstungsexportpolitik und an der
massiven Überhöhung der russischen Kriegsschandtaten ganz in Kalter-
Kriegs-Manier verpflichtet fühlt. Gerade weil Sie auf besondere Weise für
Völkerverständigung eintreten, wäre es m. E. höchst angebracht,
zusammen mit der Friedensbewegung Ihr moralisches Gewicht für
konflikt- und kriegsvorbeugende Wege in die Waagschale der politischen
Auseinandersetzung zu werfen, die es z. B. für den Mittleren Osten
schon immer gegeben hat und auch heute noch gibt: Gemeint ist eine
internationale Initiative für Kooperation und gemeinsame Sicherheit für
den gesamten Mittleren und Nahen Osten, die die absehbare
Entwicklung in der Region als weltpolitisches Pulverfass verhindert hätte.
Auch heute müsste eine solche Perspektive vor den Anfang einer jeden
Genfer Syrienkonferenz gestellt werden.

Mit herzlichen Grüssen
Mohssen Massarrat
Berlin, den 03.01.2017

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