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Der Verfassungsschutz auf der Anklagebank

Silvia Gingold ist in Kassel aktives Mitglied des Friedensforums, der VVN- BdA und der Stolperstein-Initiative. Ihre Eltern wurden von den Nazis im Dritten Reich als Juden und Kommunisten verfolgt.
In den 70er Jahren wurde sie auf der Grundlage geheimdienstlicher Erkenntnisse nach 4jähriger Lehrertätigkeit aus dem Schuldienst entlassen und bekam Berufsverbot. Sie klagte gegen das Land Hessen und wurde trotz eines Urteils, das sie zum Verfassungsfeind stempelte, aufgrund des großen öffentlichen Drucks wieder eingestellt, wenn auch nur als Angestellte. Nicht zuletzt wurde dies mit Hilfe einer breiten Solidaritätsbewegung erreicht, die bis nach Frankreich reichte, wo ihre Eltern während der Besatzung der Wehrmacht in der Résistance kämpften. François Mitterrand, der 1981 Staatspräsident wurde, setzte sich persönlich für ein Komitee zur Verteidigung der Bürgerrechte in der Bundesrepublik ein und richtete ein Solidaritätsschreiben an Silvia und ihre Eltern.
Seit 2009 wird Silvia nun wieder durch den Verfassungsschutz beobachtet. Dagegen und für die Löschung aller gesammelten Daten hat sie eine Klage erhoben. Am 12. Januar 2017 fand das erste Gerichtsverfahren vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden statt. Ihr Antrag zur Feststellung der Rechtswidrigkeit ihrer Beobachtung und der damit verbundenen Speicherung der Daten wurde zurückgewiesen. Das Verfahren zur Einstellung der Überwachung und der Löschung ihrer Daten wurde an das Verwaltungsgericht Kassel verwiesen.

Nachfolgend Silvias persönliche Stellungnahme beim Verwaltungsgericht Wiesbaden sowie ein Leserbrief von Geert Platner über die Geschichte des Verfassungsschutzes in der Bundesrepublik und ein Leserbrief von Thomas Jansen zum Hessischen Verfassungsschutz in Bezug auf den NSU-Mord von Halit Yozgat.


Persönliche Erklärung
vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden
am 12.Januar 2017


Es ist jetzt mehr als 40 Jahre her, da ich schon einmal vor Gericht mein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung einklagen musste. 1975 war ich aus dem Schuldienst entlassen worden auf der Grundlage von „Erkenntnissen“ des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, die dieses Amt seit meinem 17.Lebensjahr über mich gesammelt hatte. Es waren Aktivitäten wie z.B. die Teilnahme an Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam oder mein Eintreten für gleiche Bildungschancen, die als Beleg für angeblich „verfassungsfeindliche“ Aktivitäten galten.
Dass ich heute – inzwischen Rentnerin – immer noch oder wieder unter Beobachtung des „VS“ stehe und zwar ausschließlich wegen meiner antifaschistischen und friedenspolitischen Aktivitäten empfinde ich als Skandal.
Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die Verfolgungen durch die Nazis ausgesetzt war.
Nach Deutschland aus der Emigration zurückgekehrt, war meine Familie ab 1956 erneut Repressalien ausgesetzt: Hausdurchsuchung am Tag des KPD-Verbots, Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit, Bespitzelungen durch den „Verfassungsschutz“, - erst meine Eltern, dann auch ich - Berufsverbot.

Schon vor 40 Jahren erklärte ich vor Gericht und tue es heute wieder: Meine Einstellung zur Hessischen Landesverfassung und zum Grundgesetz ist im Wesentlichen geprägt worden durch die Erfahrungen meiner Eltern. Sie haben sich im Kampf gegen den Faschismus für jene demokratischen Grundrechte eingesetzt, die im Grundgesetz und in der hessischen Verfassung ihren Niederschlag gefunden haben. Ihr leidenschaftlicher Kampf um diese Grundrechte ist die Schlussfolgerung aus den Erfahrungen mit dem ungeheuerlichen Menschheitsverbrechen des faschistischen Regimes auch an meiner Familie. Ein Teil meiner Familie wurde in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Meine Schwester, damals 2 jährig musste, um vor diesem drohenden Schicksal geschützt zu werden, bis zum Kriegsende versteckt und von meinen Eltern getrennt leben. Mein Vater wurde von den Nazis verhaftet, schwer gefoltert und ist nur durch seine Flucht dem Tod entgangen.
Können Sie sich unter diesem Hintergrund vorstellen, wie es sich für mich anfühlt, wenn ich heute wegen Lesungen aus der Biographie meines Vaters, wegen meines Einsatzes gegen Neonazis, gegen Ausländerhass und Rassismus, gegen Militarisierung, Waffenexporten und Kriegseinsätzen der Bundeswehr bespitzelt und als verfassungsfeindlich kriminalisiert werde?

Das Landesamt für Verfassungsschutz wirft mir vor: „Dabei setzt sie den aus ihrer Familiengeschichte resultierenden extremen öffentlichen Bekanntheitsgrad bei ihrer Zusammenarbeit mit extremistischen Gruppen ‚medien- und werbewirksam ein’“ Zu dieser – wie ich finde respektlosen und herabwürdigenden Einstellung gegenüber meinen Eltern - sage ich: Ja, diese Erfahrungen meiner Eltern setze ich dafür ein, dass sich das, was sie erleben mussten, nie wiederholt.
Schließlich waren es in erster Linie die Verfolgten, Zeugen der Naziverbrechen, die Gefolterten in den Konzentrationslagern, die Widerstandskämpfer, die dafür gesorgt haben, dass die Nazivergangenheit nicht in Vergessenheit geraten ist. Sie haben verhindert, dass ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen wurde, wie es viele nach 1945 am liebsten gehabt hätten. Mein politisches Engagement gilt diesem Ansinnen der Zeitzeugen.

Besonders skandalös empfinde ich es, wenn der „Verfassungsschutz“ als Rechtfertigung für seine Beobachtung meine Aktivitäten für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes- Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) heranzieht. Es wird behauptet: „Bezüglich dieser Organisation liegen tatsächliche Anhaltspunkte für linksextremistische Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vor.“
Mein Vater gehörte mit anderen Überlebenden der Konzentrationslager und des Widerstands in Hessen zu den Gründungsmitgliedern dieser antifaschistischen Organisation, deren Ziel es war und immer noch ist, die Erinnerungen an die Verbrechen der Nazis und den Widerstand gegen dieses Regime zu bewahren und die Wachsamkeit zu schärfen gegen alle Erscheinungen des Nationalismus, des Rassismus, des Antisemitismus und Militarismus.
Zu den Grundaussagen der Organisation gehört der „Schwur von Buchenwald“ – gesprochen von den Überlebenden KZ-Häftlingen im April 1945. Selbst der US-Präsident Barack Obama würdigte bei seinem Besuch in der KZ-Gedenkstätte dieses Vermächtnis. Diesen Schwur von Buchenwald missbraucht das Landesamt für Verfassungsschutz als Beleg für linksextremistische Bestrebungen der VVN.

In der Begründung des VS für die Nichtvorlage oder Schwärzungen von Akten heißt es u.a.: „Zudem handelt es sich um hochsensibles Aufkommen, da die Informationen aus persönlichen Gesprächen gewonnen wurden.“ Und an anderer Stelle: „Die in den Akten dokumentierten, hier nicht vorgelegten Erkenntnisse stammen aus nachrichtendienstlichen Erkenntnisquellen, die durch sachkundige Mitarbeiter des LfV überprüft und bewertet worden sind… Ihr Offenlegen im gegenständlichen Verwaltungsstreitverfahren würde Rückschlüsse auf die Art der Erkenntnisquellen zulassen, die zu Gefahren für Leib und Leben von Personen führen könnten…“
Können Sie sich vorstellen, wie es sich für mich anfühlt, wenn sich die Beobachtung meiner Person nicht nur auf öffentlich zugängliche Quellen stützt, sondern die Bespitzelung auch in persönlichen Gesprächen meines Umfelds bis hin zum Ausspähen meiner e-mail- Korrespondenzen stattfindet, wie dies ebenfalls in der Sperrerklärung eingeräumt wird? Und wie es sich für mich anfühlt, wenn der Eindruck erweckt wird, es handle sich bei mir um eine gefährliche Person, die gar eine reale Bedrohung für Mitarbeitende des VS darstellt?
Angesichts der tatsächlichen terroristischen Bedrohung durch fremdenfeindliche und rassistische Gewalttaten, NSU-Morde oder Anschläge, wie auf den Weihnachtsmarkt in Berlin empört mich eine solche Unterstellung und macht mich fassungslos.

Ich erhoffe mir von diesem Verfahren, dass das Gericht die Rechtswidrigkeit der Beobachtung und Bespitzelung meiner Person durch den „Verfassungsschutz“ feststellt und die Löschung aller über mich gesammelten Daten anordnet. Ich erwarte dass Sie meinem durch die Verfassung geschützten Recht auf Meinungsfreiheit Geltung verschaffen.


Silvia Gingold

Wiesbaden, den 12.Januar 2017



Leserbrief an die Frankfurter Rundschau

Vor fast genau 40 Jahren fand unsere Solidaritätskampagne für Silvia Gingold breite Zustimmung - sogar in der nordhessischen Provinz! Doch nun muss sie wieder vor Gericht ziehen, um eine Löschung ihrer Daten zu erreichen.
Was wollen wir uns eigentlich noch alles gefallen lassen von einem Geheimdienst, der "außer Rand und Band geraten ist", wie Heribert Prantl treffend formulierte?  Ausgerechnet der "Verfassungsschutz" zieht eine Spur von Grundrechtsverletzungen durch die Geschichte der Bundesrepublik - begleitet von einer ganzen Liste beschämender Rücktritte seiner Präsidenten und öffentlicher Skandale.
Es begann mit dem Vorsitzenden der 1952 verbotenen Sozialistischen Reichspartei (SRP), der sich der Zuwendung als Informeller Mitarbeiter (IM) des Verfassungsschutzes erfreute. Zugleich brachte im "Fall Siemens" ein ehemals ranghohes Mitglied der "Leibstandarte Adolf Hitler" wieder einmal Kommunisten hinter Gitter -diesmal aber bei den "Hütern" der Verfassung. Elf Jahre regierte dann Hubert Schrübbers als Präsident ungeachtet seiner Mitwirkung in der NS-Terrorjustiz.
1963 gab es die sogenannte "Telefon-Affäre" mit umfassenden gesetzeswidrigen Abhöraktionen; 1969 lieferte der V-Mann Urbach die Bombe für einen geplanten Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus in Berlin - er erhielt eine neue Identität im Ausland.
Die große Zeit der selbsternannten Verfassungsschützer kam mit den Berufsverboten und millionenfacher Überprüfung junger Menschen - in einem Klima zerstörter Berufshoffungen, Angst und Einschüchterung. Ohne gesetzliche Grundlage fungierte der "Schutz" als inoffizielle Einstellungsbehörde; ein Treiben, das später vom Europäischen Gerichtshof als "Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention" eingestuft wurde.
1977 titelte der SPIEGEL "Verfassungsschutz bricht Verfassung": Die unrechtmäßige Bespitzelung des Atomwissenschaftlers Klaus Traube ging bis zu Wohnungseinbrüchen und arrangierter Entlassung aus dem Beruf. Innenminister Maihofer kam dadurch zu Fall.
Man könnte noch viel über die Vertuschungen im 11 Jahre dauernden  "Schmücker-Prozess" oder über die dubiosen Umstände des Münchner Attentats von 1980 berichten - symptomatisch ist eine schlichte Gegenüberstellung: Während der Rechtsterrorismus der NSU ignoriert und z.T. sogar gefördert wurde, sammelte der "Dienst" jahrzehntelang akribisch jedes Detail über Vorträge und Publikationen des kritischen Publizisten Rolf Gössner. Als das endlich gerichtlich verboten wurde, war die Akte Gössner 2000 Seiten stark.
Der jetzige Präsident Hans-Georg Maaßen steht ganz in dieser Tradition: Im Juni vergangenen Jahres bezeichnete er Edward Snowden "als Teil der hybriden Kriegsführung Russlands gegen den Westen". Belege konnte er dafür nicht nennen.
Seit letztem Dienstag phantasiert er von einer dramatischen Cyber-Kriegsführung Russlands und fordert (wörtlich) zum "Angriff" auf: "Wir halten es für notwendig, dass wir nicht nur rein defensiv tätig sind". Der einschlägige Artikel des Grundgesetzes, der alle Vorbereitungen eines Angriffskrieges - egal welcher Art - verbietet, interessiert dabei nicht, denn wie sagte einst Innenminister Höcherl: Man kann nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unterm Arm herumlaufen.
 
f.d.Richtigkeit: Geert Platner


Leserbrief an die HNA

"Wie lange noch will die Hessische Landesregierung die Hand über den Verfassungsschützer A. Temme halten, dessen Glaubwürdigkeit zuletzt durch die Zeugenaussage einer Geheimdienstmitarbeiterin erschüttert wurde: Acht Verfehlungen von Temme u.a. wegen Drogen- und Waffenbesitz sowie rechtextremistischen Materials haben ihn ungeschoren davonkommen lassen.
Seine dubiose Rolle beim Mord an H.  Yozgat  sowie die monatelangen Ermittlungen wegen Tatbeteiligung  haben die Beschäftigung Temmes in der Personalabteilung des Regierungspräsidiums nicht verhindert. Gleichzeitig setzt der Hessische Verfassungsschutz vor dem Wiesbadener Verwaltungsgericht alle Energie daran,  die Klage der Kasseler Lehrerin Silvia Gingold  gegen ihre fortgesetzte Überwachung durch den Verfassungsschutz abzuweisen. Ihr antifaschistisches Engagement in der Tradition ihrer Eltern,  die  von den Nazis als Juden und Kommunisten verfolgt wurden ,  macht sie einer Behörde , die auf dem rechten Auge blind ist, verdächtig."

Thomas Jansen


Als weitere Information hier noch ein Interview mit Silvia Gingold in der JW
und ein Bericht der HNA vom 27.Januar 2017