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Tödliche Abschiebungen nach Afghanistan

Demo gegen Abschiebungen nach Afghanistan 7.1.17 Frankfurt a. M.
Am 24.02.2017 wurde von den Staatssekretären des Bundesinnenministeriums des Auswärtigen Amtes ein gemeinsamer Brief an die Länderinnenminister zur "Abschiebelage" in Afghanistan verfasst, der als Reaktion auf die Weigerung einiger Bundesländer, sich an Abschiebungen nach Afghanistan zu beteiligen, anzusehen ist. Ernst-Ludwig Iskenius (Arbeitskreis Flüchtlinge, IPPNW) hat sich mit der Argumentation der Bundesregierung auseinandergesetzt. Nachfolgend seine Entgegnung. Zitate aus dem Brief, auf die er sich dabei bezieht, sind kursiv gesetzt.

"Im vergangenen Jahr stellten 127 892 afghanische Staatsangehörige einen Asylantrag in Deutschland. Afghanistan rückte damit als Herkunftsland für uns an die zweite Stelle. Die Schutzquote für afghanische Asylbewerber lag in Deutschland mit 55,8% fast doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt (32%)."

Allein diese Aussagen zeigen schon, wie bedrohlich die Situation in Afghanistan ist. Niemand verlässt sein Land ohne Grund. Es ist offensichtlich, dass viele Menschen dort keinen anderen Ausweg sehen als die lebensgefährliche Flucht nach Europa. Das allein sollte eigentlich Grund genug für einen Abschiebestopp sein. Der Hinweis, dass die Schutzquote gegenüber dem EU-Durchschnitt "doppelt" so hoch ist, soll suggerieren, dass man in Deutschland sehr großzügig sei. Allerdings müssen wir immer wieder darauf hinweisen, dass bedrohte Menschen ein Recht auf Asyl haben - es ist kein Gnadenrecht!

"Dies bedeutet umgekehrt auch…..grundsätzlich in ihr Heimatland zurückkehren müssen."

"Grundsätzlich" heißt ja nicht jetzt sofort. Viele der abgelehnten Asylbewerber sind schon länger hier. Die Situation in Afghanistan hat sich massiv verschlechtert. Diese Tendenz hält an. Stabilisierung ist nicht in Sicht. Die Grundlage für Asyl-Entscheidungen ist deshalb in der Regel schon überholt, wenn abgelehnte Asylbewerber abgeschoben werden sollen. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat davon gesprochen, dass die Situation in Afghanistan neu überprüft und bewertet werden muss.
Nach Afghanistan abgeschobene Menschen werden erwiesenermaßen in eine ausweglose lebensgefährliche Situation gebracht, nur weil man sie hier aus innenpolitischen Gründen nicht schützen will.

"Vor dem Hintergrund der im europäischen Vergleich sehr hohen Schutzquote ist die Zahl der jährlichen Rückführungen afghanischer Staatsangehöriger aus Deutschland vergleichsweise gering."

Offensichtlich hat sich zumindest gedanklich eine Art Wettbewerb "Wer schützt am wenigsten" unter den Staaten und Regierungen in Europa breit gemacht. Wenn die Schutzquote bei uns höher ist, sollte man darauf hinarbeiten, dass sie in den anderen Ländern angehoben wird, anstatt die Schutzstandards auf einem niedrigeren Niveau anzugleichen.
Deutschland hat obendrein auch besondere Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen:
1.  aufgrund unserer Geschichte
2. weil die Bundeswehr in Afghanistan viel zum heutigen Chaos und zur Gefährdung der Bevölkerung beigetragen hat
3. weil unser Potential für die Flüchtlingsaufnahme viel größer ist als in den meisten anderen EU-Ländern.
Wenn man schon vergleichen will, sollte man auch diese Gesichtspunkte in die Waagschale werfen.

"Hiervon macht Deutschland behutsam Gebrauch und beschränkt sich bis jetzt auf alleinstehende Männer (67 im letzten Jahr)."

Die Situation der nach Afghanistan abgeschobenen alleinstehenden Männer ist besonders heikel. Da sie weder in die Nachbarländer noch nach Europa fliehen können, bleibt vielen von ihnen nichts anderes übrig, als sich einer der bewaffneten Gruppen anzuschließen, sei es aus Existenz- oder aus Sicherheitsgründen. Sie werden als Kämpfer eingesetzt, im schlimmsten Fall zu Selbstmordattentätern gedrillt. Die "mörderische" Rückführungspolitik wird auf Dauer zu einem noch größeren Chaos in Afghanistan führen und die Gewaltspirale in immer schnellere Drehung versetzen. Der afghanische Staat kann den gewaltsam zurück gebrachten Männern keine Existenzalternative bieten, wie man an den Schicksalen der Rückkehrer bisher schon beobachten kann. Statt Fluchtursachen zu bekämpfen, verschärft die rigide Abschiebepolitik die Situation im Herkunftsland.

"Über 3 300 freiwillige Rückkehrer aus Deutschland sprechen eine klare Sprache…"

Abgesehen von der Frage, wie viele dieser Flüchtlinge unter großem Druck "freiwillig" Deutschland verlassen haben, um nicht mit erniedrigender polizeilicher Gewalt vertrieben zu werden, sind diese Zahlen eher niedrig. Sie zeigen, dass die meisten aus Afghanistan Geflüchteten keine Hoffnung auf Besserung in ihrem Land haben, um dort sicher existieren zu können. Wenn man die Zahlen mit denen der Rückkehrer in den Jahren 2002-2004 vergleicht, als mit einer aufkeimenden Hoffnung auf Besserung und Wiederaufbau ihres Landes wirklich freiwillig und ohne finanzielle Anreize mehrere 100.000 Menschen aus dem Exil nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dann zeigen die aktuellen Zahlen nur eins: wie zutiefst enttäuscht und hoffnungslos die Menschen von der Entwicklung in ihrem Land sind. Bisher schweigt die Bundesregierung sich auch darüber aus, was aus den Rückkehrern geworden ist; deren Schicksal wird nicht weiter verfolgt; man befragt die abgeschobenen und die "freiwilligen" Rückkehrer nicht, wie sie zurechtkommen und ob sie sich eine Existenz schaffen konnten. Warum sagt die Regierung dazu nichts? Private Erhebungen zeugen von katastrophalen Situationen der Rückkehrer.

"Noch weitaus höher ist die Zahl der freiwilligen Rückkehrer aus benachbarten Ländern: Aus Pakistan kehrten 2016 immerhin mehr als 600.000 Menschen zurück nach Afghanistan. Sie sehen eine Zukunft im Land und halten offensichtlich die Sicherheitslage für erträglich".

Bei diesem Satz stockte mir der Atem wegen der Unverfrorenheit, mit der hier Fakten verdreht werden, damit sie ins Argumentationsmuster passen. Die Bundesregierung weiß selbst, dass Pakistan erklärt hat, seine 2,3 Mill. afghanischen Flüchtlinge bis zum Frühjahr 2017 alle mit Gewalt zurückzuschicken. Dass sie noch nicht alle vertrieben haben, liegt an der mangelnden Logistik. Es ist mitnichten so, dass diese Menschen freiwillig nach Afghanistan zurückkehren, sondern erneut vertrieben und zu Flüchtlingen im eigenen Herkunftsland gemacht werden. Das ist doch das Riesenproblem, dass dieses kriegsgeschüttelte, zu den ärmsten Ländern der Erde gehörende Land plötzlich neben der hohen Zahl der eigenen Binnenflüchtlinge noch von außen eine kaum fassbare Zahl an entwurzelten Menschen wieder aufnehmen muss. Alle Fachleute der unabhängigen Hilfsorganisationen befürchten, dass diese Tatsache den Kollaps der wenigen noch funktionierenden Institutionen beschleunigen wird. Dies als Argument zu nehmen, man könne getrost dann auch aus Europa Menschen "zurückführen", zeugt von menschenverachtendem Zynismus.

"Gleichzeitig muss eine weitere Destabilisierung des Landes verhindert werden. Aus diesem Grund haben Präsident Ghani ebenso wie viele Vertreter der Zivilgesellschaft immer wieder vor einem "Brain-Drain" gewarnt, also einer Abwanderung von - häufig gut ausgebildeten- jungen Afghanen. Es wird nur gemeinsam mit der afghanischen Regierung sowie tatkräftiger Unterstützung durch die afghanische Bevölkerung gelingen, mehr Stabilität in Afghanistan zu schaffen, die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern und Vertrauen in effektive staatliche Strukturen aufzubauen."

Der für Afghanistan schädliche Brain Drain wird u.a. dadurch verursacht, dass die staatlichen Strukturen gut ausgebildete Menschen nicht schützen können. Diejenigen, bei denen Kriminelle etwas holen zu können glauben, sind alltäglichen Erpressungen und Entführungen ausgesetzt und fliehen deshalb, selbst aus Gebieten und Städten, die offiziell als kontrollierbar gelten. Die Lebensgeschichten vieler Afghanen bei uns sind dafür gute Beispiele. Es gab sogar einmal einen Behandlungsstreik von Ärzten in Herat wegen der ständigen Entführungen ihrer Kinder und Erpressungen ihrer Familien. Der Streik ist wirkungslos geblieben. Solange die Polizei und die staatlichen Stellen hier keine Sicherheit geben können (die Ursachen dafür sind vielfältig und haben mit dem Krieg zu tun), gibt es auch kein überzeugendes Rückkehrkonzept. Viele der gut ausgebildeten Afghanen würden lieber zu Hause bleiben oder zurückgehen und ihre Heimat wieder mit aufbauen, sehen aber überhaupt keine Möglichkeit dazu. Aufgrund ihrer Erfahrungen sind sie hochgradig gefährdet. Diese Menschen zwangsweise in die derzeitige Situation zurückzuschicken, würde die Chance vertun, dass sie später einmal (wann??) am Wiederaufbau teilnehmen könnten. "Brain Drain" bekämpft man nicht damit, Menschen in eine unsichere ausweglose Situation zu treiben, sondern ihnen Bedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, ihre Fähigkeiten und ihr Wissen wirksam einzusetzen anstatt ständig um das Leben bangen zu müssen.
Zu "Brain Drain" ist zudem anzumerken, dass es doch gerade die Industrieländer sind (auch Deutschland), die gezielt für die Wirtschaft "wertvolle", gut ausgebildete Fachleute aus armen Ländern anlocken bzw. entsprechende Flüchtlinge bereitwillig mit "green" oder "blue cards" ausstatten, um sie hier für die Wirtschaft sofort verfügbar zu machen. Das ist unmoralisches Ausnützen der Herkunftsländer und das krasse Gegenteil von Fluchtursachenbekämpfung. Jetzt so zu tun, als wirke die Abschiebung abgelehnter Asylsuchender dem "Brain Drain" entgegen, ist pure Heuchelei.

"Insgesamt hat sich die Sicherheitslage 2016 im Vergleich zum Vorjahr nicht wesentlich verändert."

Auch hier wird offensichtlich im "Trump’schen" Sinn dem "Postfaktischen" gefrönt. Jeder seriöse Bericht aus dem Land, sei er vom UNHCR, von Amnesty International oder von UNAMA, bestätigt in Zahlen und Beschreibungen, dass sich die Situation 2016 erheblich verschlechtert hat, und zwar kontinuierlich auch in den Vorjahren. Und die Prognose für 2017 ist keine bessere, sondern es wird eine weitere Verschlechterung befürchtet. Diese Tatsache wird einfach ausgeblendet. Stellvertretend der UNHCR in seinem Bericht von 2016: "Seit der Veröffentlichung der Richtlinien hat sich allerdings die Gesamtsicherheitslage in Afghanistan weiter rapide verschlechtert….. - gleichzeitig die höchste Zahl an zivilen Opfern für einen Halbjahreszeitraum seit 2009" . Details sollten in den Kapiteln "Verschärfung des Konfliktes und Anstieg an zivilen Opfern" nachgelesen werden.

" ….erhöhte sich die Zahl ziviler Opfer nur leicht (+ 3 %)"

Abgesehen davon, dass diese Prozentzahl über das gesellschaftliche Leid nichts aussagt, ist es eine Tatsache, dass jetzt ein Höchststand an neuen Opfern unter der Zivilbevölkerung seit 2009 erreicht ist. Sieht man sich die Zahlen im UNAMA-Bericht genauer an, so ist tatsächlich ein Rückgang von 2 % an Toten gegenüber 2015 zu verzeichnen, aber dafür ein Anstieg von 6% an Verletzten, darunter besonders hoch der Kinderanteil. Hier von "leicht" zu reden, ist nicht nachvollziehbar, es sei denn, man sitzt im sicheren Sessel eines Ministeriums. Insgesamt ist das Niveau der toten und verletzten Zivilisten sehr hoch. Außerdem sind die Zahlen höchst konservativ. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher liegen, denn nicht überall in diesem Land (Krieg zur Zeit in 34 von 38 Provinzen) können exakte Statistiken geführt werden. Genauso wenig aussagekräftig ist der Hinweis, dass die zivilen Opferzahlen im Nordosten und Osten gesunken seien. Die Bundesregierung spricht ja selbst von einer "volatilen Sicherheitslage", d.h. eine sich sehr schnell ändernde Situation, die jederzeit an jedem Ort neue Opfer unter der Zivilbevölkerung verursachen kann. Spricht die Bundesregierung auch dann wieder von Fortschritten, wenn die Opfer unter der Zivilbevölkerung im nächsten Jahr im Süden leicht zurückgegangen, aber im Osten und Norden wieder angestiegen sind?

"Vorfälle ereignen sich meist räumlich und zeitlich punktuell.."

Genau das macht ja die Kriegsführung der Taliban und anderer aufständischer Gruppen aus. Es geht nicht um die Eroberung bestimmter Landstriche, sondern einzig und allein um Machtdemonstration und Verunsicherung der Bevölkerung: "Wir können zu jeder Zeit und überall da sein und Gewalt ausüben. Die Regierung und die ausländischen Truppen können Euch nicht schützen". Deshalb sind die Gewaltakte der Taliban sehr willkürlich und unvorhersehbar, sei es auf Märkten, sei es an anderen Orten mit Menschenansammlungen. Das macht die Lage überall in Afghanistan für die Bevölkerung so unsicher und unkalkulierbar. Was bei uns schon ein einziger Terroranschlag an Maßnahmen und Aktivitäten im sonst weitgehend sicheren Land mit funktionierender Polizei auslöst, ist in Afghanistan bei den dort alltäglichen Gewaltakten nicht einmal ansatzweise möglich. "Volatil" meint nicht nur regionale Unterschiede der Sicherheitslage, sondern auch, dass diese überall im Land fließend und sehr schnell veränderlich ist. Dieser Fakt wird hier völlig ausgeblendet.

"In jedem Einzelfall muss das Gefährdungsrisiko unter Einbeziehung sämtlicher individueller Umstände (wie Ethnie und Herkunftsregion, Konfession, Familienstand und Herkunft) geprüft werden."

Bei den jetzt Abgeschobenen liegen Prüfung und Ablehnung der Asylanträge manchmal schon viele Jahre zurück. Wurden sie erneut individuell geprüft? Welche Ausländerbehörde hat, wie es ihre Pflicht wäre, jeden Ausreisepflichtigen noch einmal darauf hingewiesen, dass er schnellstmöglich seinen Gefährdungsgrad noch einmal überprüfen lässt, weil sich die Situation stark verändert hat und sogar das Bundesverfassungsgericht gefordert hat, die Situation jedes Einzelnen neu zu überprüfen. Das geschieht nicht. Stattdessen werden die Menschen in Nacht- und Nebelaktionen aus ihren Betten geholt, ins Flugzeug gesetzt und in Kabul abgeladen. Anders ist nicht zu verstehen, dass die Abschiebung eines schwer kranken Menschen in letzter Minute vom Bundesverfassungsgericht gestoppt wurde. Anders ist auch nicht zu erklären, dass ein schwer traumatisierter Mensch vier Tage lang orientierungslos in Kabul umher gelaufen ist und die erforderlichen Medikamente nicht bekommen hat. Anders ist auch nicht zu erklären, dass ein ebenfalls schwer traumatisierter "Zurückgeführter" kurz nach seiner Ankunft in Kabul durch einen Terroranschlag verletzt und erneut schwersttraumatisiert wurde. Das System der Einzelprüfung bleibt tödlich löchrig, solange eine "volatile" Situation in Afghanistan herrscht.
Dem ist Rechnung zu tragen, wenn der Flüchtlingsschutz noch ernst genommen werden soll!

Siehe ebenfalls:

Hinweise auf Aktionen:

Veröffentlicht am
05. März 2017

Weitere Informationen: Das Märchen vom sicheren Afghanistan | Monitor | Das Erste | WDR

Hilflos in Kabul: Abschiebungen nach Afghanistan | Monitor | Das Erste | WDR