E-Mail-Verteiler
Hier können Sie sich in unseren E-Mail-Verteiler eintragen

Termine

Krieg als Krankheit oder Die Krankheit Krieg -Politische Gewalt aus ärztlicher Sicht- zur Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki

Hiroshima-Nagasakigedenken am 9.August 2017 in Kassel
Der Arzt und Autor Suitbert Hoffmann hielt am 9. August 2017, anlässlich des Hiroshima-Nagasakigedenkens in Kassel, eine beeindruckende Rede, die wir an dieser Stelle zum Nachlesen veröffentlichen.


Neufassung meiner Rede vom 8. September 2003:

Krieg als Krankheit

oder

Die Krankheit Krieg

-Politische Gewalt aus ärztlicher Sicht-

zur Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki

Kassel, 9. 8. 2017

Suitbert Hoffmann


*

„Vor den Menschen , vor ihnen alleine muss man Angst haben, immer.“

Louis-Ferdinand Celine

(aus: „Reise ans Ende der Nacht, 1932)

*

„Wir haben den Krieg gewonnen, aber den Frieden verloren.“

(Albert Einstein nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki)

*

„Ich liebe die Menschen, nicht die Menschheit.“

Suitbert Hoffmann

2017

*

Ich stehe hier, um mich mit Ihnen an die Vergangenheit zu erinnern, an die Bilder der Zerstörung, an die endlose Reihe von Zerstörungen, auch an die Zerstörung dieser Stadt. Hiroshima und Nagasaki sind jedoch die Wahrzeichen einer Vernichtung, die sich bis heute fortsetzt, die unauslöschbar bleibt und weiter ihre Opfer fordert.

Die Kriege haben sich gewandelt. Haben sie das? Kriege bleiben Kriege.

Die Geschäfte mit ihnen haben sich gewandelt. Haben sie das? Geschäfte bleiben Geschäfte.

Gleich neben dem Hollywood-Safari-Park in Stukenbrock zwischen Paderborn und Bielefeld liegt jenes Massengrab von ungefähr 65.000 elend krepierten Russinnen und Russen. Dort liegt am alten Mahnmal der NIE-WIEDER-Stein, 1984 dort eingelassen während einer Gedächtnisstunde russischer und deutscher Ärztinnen und Ärzte, die sich damals einem drohenden, alles zerstörenden Weltenbrand gegenübersahen. Auf diesem Stein stehen die Worte: „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ - Heute, 2017 könnte auf diesem Stein geschrieben sein: „Das Zukünftige ist schon geschehen, obwohl es noch nicht geschehen ist. Wir trennen es von uns ab stellen uns weiter fremd.“

Erinnern wir uns also an die Zukunft!

Ich stehe hier als Arzt und als Kriegskind, geboren 1940. Ich bin Arzt und Kriegskind zugleich mit unvergesslichen Bildern von traumatischen Schrecken und menschlichem Elend, mit Bildern einer unbeendeten und nicht zu beendenden Kindheit und ihren endlosen Angstträumen. Ich stehe hier, weil all das Vergangene zukünftig geblieben ist.

Den Krieg, dessen Ende ich weiter im Kopf habe, habe ich immer wieder in Worte zu fassen versucht, aber es will mir nicht gelingen. Ich schrecke vor dem Gedanken an kommendes Grauen zurück, das mir oft genug den Schlaf raubt, das kommende Elend und die endlose Zahl von Toten, von Toden, die ich als Kind mit ansah.

Ich will nicht noch einmal Krieg!

Bisher war Krieg der Krieg von Nationen, den „Vaterländern“ ausgegangen. Sie benötigten ihre „Feinde“, um die „Nation“ zusammenzuhalten. In Vietnam wurde daraus ein Kampf der „Demokratie“ gegen den „Kommunismus“, jetzt heisst er „Kampf der Freiheit gegen den Terror“, Freiheit, die wir am Hindukusch und in Afrika verteidigen. Es ist ein verdeckter Weltkrieg von „Gut“ gegen „Böse“, von „Reich“ gegen „Arm“, von „Christenheit“ gegen „Islam“, von „Kreuzzug“ gegen „Dschihad“, heilige, geheiligte Kriege, sie alle mit segenbringenden Waffen. Hier die „Guten“, dort die „Bösen“? Wie kann man so etwas fragen?

Ich will nicht noch einmal Krieg!

Weder einen um „Werte“, noch einen um „Macht“, keinen um „Grösse“ und keinen um „Ehre“, keinen ums Verrecken, in dem ein Mensch immer wertloser wird, ausgeliefert den Protagonisten blanker Gewalt, zur Spielfigur der brutalen Schachspieler degradiert. Betrachte ich die mutwilligen Zerstörungen, all die verstörten, verletzten und zerstörten Menschenleben, kann ich nicht umhin, den Begriff „Krieg“ dem Begriff „Krankheit“ zuzuordnen, denn er entspringt den Wahnideen von Kranken.

Wenn ich also versuche, Krieg als Krankheit zu beschreiben, so ist es auch der Versuch, ihn als hilfreiche Pathologie darzustellen, als atavistischen Rückfall in primitive Überwältigung durch gewalttätig beanspruchtes Recht des Stärkeren. Das gegenwärtige Ausmass der Krankheit Krieg, ihre ungehemmte Verbreitung wie einst Pest und Syphilis, die früher in den sicheren Tod führten, die scheinbare Ohnmacht, sie zu behandeln, lässt mich jedoch zweifeln, dass unsere Mittel ausreichen, sie zu besiegen, ja nicht einmal Besserung oder nur Linderung der Leiden zu erreichen. Denn die Folgen kommender Kriege sind nicht mehr behandelbar. Sie werden bleibende offene Wunden hinterlassen. Darüber müssen wir uns im Klaren sein.

Nur eines passt nicht in die Vorstellung vom Krieg als Krankheit. Ein Krieg bricht nicht einfach aus. Er wird von Menschen gemacht, ist keine Infektion, der wir wie einst Pest und Syphilis hilflos gegenüberstehen. Wir wären in der Lage, Kriege zu beenden oder zu verhindern, nutzten wir die uns heute zur Verfügung stehenden Mittel globaler Kommunikation und Information für eine vernetzte human verantwortliche Politik aus. Doch die engstirnigen Interessen von Herrsch- und Verbrauchssüchtigen jedweder Art lassen eine solche Lösung endlos weit entfernt scheinen. Denn unsere Wirklichkeit sieht anders aus. Sie ist geprägt von Raffsucht und Vorteilsnahme, deren Ausmass keine Grenzen mehr kennt.

Der ungeheure und vor wenigen Jahren noch undenkbare Wandel des Krieges vom national begrenzten und begrenzbaren Krieg zum grenzenlosen „Weltordnungskrieg“ (*, wie Robert Kurz’s Buch über das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismaus im Zeitalter der Globalisierung heisst, sollte das damit verbundene Verschwinden des Menschen in den Mittelpunkt rücken. In diesem Buch wird von der Krise der Arbeit und von der Krise der Politik als zwei sich bedingenden „Aspekten ein und desselben weltgeschichtlichen Prozesses“ gesprochen, vom Zersetzungsprozess der bisherigen Produktions- und Lebensformen, der „ in einen schrumpfenden globalen Minderheitskapitalismus einerseits und dessen (ins Unvorstellbare anwachsende, d.V.) Barbarisierungsprodukte andererseits“ gemündet ist.

Diese Krise ist geeignet, die „neuen Kriege“ und ihre unausweichlichen Steigerungen zu fördern, Kriege, die keine Grenzen, kein Innen oder Aussen mehr kennen. Die Schutzfunktionen verbindlichen Völker- und Menschenrechts werden im Sog der globalisierten Kriege pulverisiert. Und auch die schwer gepanzerten, von gewaltigen Luftwaffen beschirmten High-Tec-Armeen, mit astronomischen Summen zum fragwürdigen Erhalt der High-Tec-Regionen aufgestellt, werden zunehmend erfolgloser. Ihre Verluste waren z. B. nach dem Ende der „regulären“ Kamfhandlungen im Irak höher als während des sog. Krieges. Die weltweit verstreuten, einzeln oder in kleinen Gruppen operierenden „Feinde“ führen jedoch mitten im normalen Leben einen Netzwerkkrieg, der keine monatelangen Aufmärsche und keiner Ankündigungen von Anfang oder Ende bedarf und zu jeder Zeit und an jedem Ort aufflammen oder verlöschen kann.

Das sind die Gegner in einem gegnerlosen Weltkrieg, die allerseits ohne Skrupel sind und über alle Arten von Waffen verfügen. Es bleibt zu befürchten, dass sie in naher Zukunft, ganz abgesehen von den Perspektiven der elektronischen Kampfführung fern vom Ziel, auch atomare, biologisch und chemische Waffen besitzen werden, die zudem noch ständig „modernisiert“, sprich: noch grauenvollere Wirkungen erzielen werden. Haben wir uns in den 80-er Jahren vor der alles vernichtenden atomaren Mega-Vernichtung gefürchtet und gewarnt, dass wir diesen Waffen als Ärzte hilflos gegenüberstehen, können heute weitaus perfider wirkende, noch unkontrollierbarere Mini-Varianten eingesetzt werden, die Abrüstungsverhandlungen obsolet erscheinen lassen. Die A-, B- und C-Waffen der Staats-Armeen und ihrer Gegenspieler steigern die Möglichkeit ihrer Einsätze bis hin zur Massenvernichtung, ja Auslöschung der Menschheit. Allein mit Urankerngeschossen lassen sich ganze Regionen kontaminieren und das Leben zu einem nicht therapierbaren Risiko anwachsen.

Nur 1 Gramm Plutonium, an zentralen Verteilern leicht in das Wasserversorgungsnetz einer Grossstadt eingebracht, verstrahlt auf unabsehbare Zeit das gesamte Leitungssystem. Ein Leben in solch einer Stadt wäre dann unddenkbar. Plutonium, das nach dem antiken Gott der Unterwelt benannte und bekannte künstlich geschaffene chemische Element ist eine hochradioaktive Substanz mit einer Halbwertszeit von 56.000 Jahren. Einmal freigesetzt ist es weder kontrollierbar noch zu beseitigen. Wie soll die Menschheit mit diesem fatalen Erbe weiterleben?

Erinnern wir uns auch an Tschernobyl, 1986. Damals wurden bei der Reaktorexplosion „nur“ 3- 4-% des strahlenden Materials freigesetzt. Medizinisch, das wissen wir längst, ist keine Hilfe möglich. Ganze Landstriche bleiben für den Rest der Stahlungszeit unbwohnbar. 30 Reaktorarbeiter starben während der Explosion und 24.000 von 700.000 Helfern, die den „Sarkophag“ (d.h. griechisch Fleischfresser) um den Reaktor bauen mussten. Insgesamt wurden ca. 300.000 Menschen durch das Desaster getötet, 6 Millionen sind weiter der Strahlung aus den kontaminierten Zonen ausgesetzt, in der die Radioaktivität 200 mal so hoch ist wie in Hiroshima und Nagasaki, 64% der an Schilddrüsenkrebs Erkrankten müssen in dieser Zone leben. Durch die radioaktive Wolke wurde 70% des Territoriums von Weiss-Russland verstrahlt, so dass die landwirtschaftliche Produktion, die einzige wesentliche Ressource dieses Landes für immer vergiftet ist.

Denken wir an die Fukushima-Katastrophe, 2011 und seine ebenso unabsehbaren Folgen. Und was mag noch kommen, wenn dieser Irrweg bedenkenlos fortgesetzt wird? Was bei vergleichsweise kleinen nuklearen Störfällen geschehen ist, lässt ahnen, was im Fall eines Plutoniumattentats oder bewusst geplanter Kriegseinsätze von Plutonium auf uns zukäme. Ärzliche Hilfe wäre ausgeschlossen, Dekontaminierung eine Illusion. Jede publikumswirksame Vorführung von Rettungseinrichtungen, jedes Planen und Organisieren dient nur dazu, die längst entlarvte Farce von den Beherrschbarkeit atomarer Katastrophen vor der Bevölkerung zu verschleiern.

Die sich immer schneller drehende Spirale von Gewalt und Gegengewalt zu beenden, an der eine sich selbst lähmende und unentschlossene Politik blind und taub mitdreht, wird vorerst nur ein schöner Traum bleiben, solange weiter mit unveränderten, untauglichen Mitteln beschränkter Eigeninteressen und selbstsüchtiger Gewinnermentalität Politik gemacht wird, die diesen Namen nicht verdient. Mit den Folgen der bestialischen Erfindungen, die zum vorgeblichen Schutz gemacht und mit Unsummen gefördert werden, werden wir Goethesche Zauberlehrlinge bleiben, die das, was sie ingang setzten, nicht mehr zu beherrschen wissen. Die Flugzeuge, aus denen am 6. August 1945 die erste A-Bombe namens „Little Boy“ über Hiroshima und die zweite mit Namen „Fat Man“ über Nagasaki abgeworfen wurde, töteten sofort etwa 80.000 Menschen in Hiroshima und 60.000 in Nagasaki, hinzu kommt die ungeheure Zahl derer, die an Früh- und Spätfolgen, die bis heute andauern, gestorben sind. Allein bis 1950 war die Zahl der Todesopfer in beiden Städten auf 250.000 angewachsen. Die Folgen der Abwürfe haben keinen der Verantwortlichen davon abgehalten, nicht nur die ungehemmte Weiterverbreitung von ABC-Waffen nicht zu beenden, sondern sie weiterhin in ihre militärischen Konzepte einzuplanen. Wer solche Planungen unterstützt und fördert, wer mit dem Arsenal an derartigen Waffen droht, wird sie auch eines Tages anwenden und spielt mit dauerhafter, unumkehrbarer Vernichtung und der Auslöschung des Menschengeschlechts. Aber die Bomber werfen weiter ab und die Raketen fliegen weiter. Sie haben zahllose Piloten und anonyme Navigatoren, die weltweit jedes beliebige Ziel zu treffen imstande sind.

Uns wird kein „Alter Meister“ von den voraussehbaren Schreckensszenarien retten. Nur wir selbst könnten in der Lage sein, die abgelebten postnationalen Ruinen unseres Stolzes und unserer Überheblichkeit abzureissen und uns von menschenlosem Machtwahn zu trennen. Nicht der Arzt allein heilt den Kranken, der Kranke muss selbst den Willen zur Heilung aufbringen. Wir sind also für uns selbst verantwortlich. Und niemand kann im Zeitalter digitaler Allwissenheit mehr behaupten, er hätte von nichts gewusst oder es ginge ihn nichts an. Niemand kann sich von vergangener Schuld und Schande freisprechen. Wir, die wir uns dazu bekennen, feiern keinen „Schuld-Kult“ sondern leben zivile Verantwortungskultur.

Ein letztes, besonders bedrückendes Kapitel von Kriegsfolgen ist das erdrückende Gewicht psychischer Langzeitfolgen, die vor allem Frauen und Kindern drohen. Militärische Gewaltanwendung bedeutet auch immer sexuelle Gewalt. Krieg und Vergewaltigung sind eine untrennbare Einheit und keine bedauerlichen Zwischenfälle, keine entschuldbare Einzeltaten. Frauen und Kinder beiderlei Geschlechts sind stets der sexuellen Gewalt ihrer „Befreier“ und „Beschützer“ ausgeliefert. Danach ist für die Betroffenen ein sogenanntes „normales Leben“ nicht mehr möglich. Die düsteren Folgen dieser mutwillig und leichtfertig begangenen, tief verletzenden Verbrechen sind lebenslang wirksam. Zu den Folgen gehören auch Depressionen bis hin zu einer erhöhten Suizidgefahr, sowie oft eine eigene Gewaltkarriere wie bei den Kindersoldaten, die Angetanes durch Vergeltung ausgleichen wollen, oder unüberwindliche Ängste im Umgang mit anderen Menschen, ein gestörtes Sexualverhalten, das entweder von Unsicherheit und Verstörtheit oder vom Wunsch nach Rache geprägt ist. Jeder, der bei Entscheidungen für militärische Gewaltanwendung Verantwortung trägt, muss sich über diese gravierenden, geradezu kriminellen Folgen der Befürwortung von Waffengewalt im Klaren sein. Das Wissen um diese Folgen sollte in der Ablehnung militärischer Einsätze münden. Keine Macht der Welt sollte die existentielle Gefährdung von Menschen durch Krieg und Kriegsverbrechen rechtfertigen können.

Der erbittert geführte „Weltordnungskrieg“ um die Verteilung der knapper werdenden Lebensressourcen lässt den Spielraum für politisches Handeln dahinschmelzen, um den dann wohl letzten und schrecklichsten aller Kriege zu verhindern. Uns ist es aufgetragen, die verbleibende Zeit gemäss eines Satzes des berühmten Arztes Rudolf Virchow für eine entschiedene Wende unseres Denkens und Handelns zu nutzen. Diesem Satz ist, so einfach und klar er gesagt wurde, nichts hinzuzufügen.

Er fordert, dass Politik nichts anderes sein soll als Medizin im Grossen.

Ein letztes Wort: Immer, wann und wo Menschen zusammenkommen, um ihrer Sorge um die Zukunft Ausdruck zu verleihen und nach Mitteln und Wegen suchen, das Leben auf unserem kleinen Planeten zu erhalten, ist die Hoffnung auf eine friedliche erneuerte Weltordnung, auf eine Heilung von der Krankeit Krieg nicht verloren. Lassen wir uns nicht entmutigen! Denken wir weiter an Hiroshima und Nagasaki! Lassen wir uns nicht blenden von den Machtdemonstrationen gewaltbereiter Politiker, die vorgeben, sie beschützten die, die ihnen in Wahrheit als Verfügungsmasse ausgeliefert sind! Bleiben wir unserem Gewissen verpflichtet, wachsam und ohne Furcht! Denn von der Furcht zehren die Krieger. Geben wir keine Ruhe, bleiben wir in unserer Forderung nach Frieden radikal, radikale Verteidiger des Rechts auf Unantastbarkeit aller, die in diese Welt geboren wurden!

* * *

Wenn sie die Leiber ihrer Mütter...

Wenn sie die leiber ihrer mütter verlassen haben,
wenn sie zu atmen beginnen,
wenn sie ohne nabelschnur leben
und wie kleine vögel nach nahrung rufen,
nach händen, die sie bergen und sich sorgen,
werden wir ihnen gewöhnlich zu essen geben
und ihnen glück wünschen, gesundheit und frieden.

Haben wir dann die wachsende last
der ungewissheit unserer wünsche bedacht,
die wir auf sie häufen, und wenn ja,
geschworen, sie zu vermindern? und wenn nein,
wie grosz ist unsere fähigkeit zu vergessen
schon gewachsen, so dasz wir durch unsere wünsche
die last auf den kleinen schultern nur noch vergröszern?

Haben wir dann noch recht getan, ihnen ins leben zu helfen?

Wenn sie die leiber ihrer mütter verlassen haben,
dürfen wir sie nicht ausliefern durch unsere unbedachten wünsche
oder durch unsere weigerung, uns zu erinnern.

Denn das unbedachte und das vergessene wird fähig sein, sie zu ermorden.

So könnten die lebenswünsche fluch ihres nahenden todes sein.
und das begeisterte feuer, dem sie entstammten,
wird sie sogleich zu asche verbrennen.

*


Helsinki und Göttingen (aus: Vortrag zu „Atomkraftwerk Würgassen. Die Vernichtung zieht aufs Land oder: Die Wirklichkeit des Unzumutbaren“), Juni 1984


PDF des Redebeitrags zum Herunterladen und Drucken