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„In Syrien herrscht kein Bürgerkrieg, es ist ein Stellvertreterkrieg“

Militärisch in den Anti-Terrorkrieg gegen den Islamischen Staat (IS) einzugreifen, sei der falsche Weg, sagt die Journalistin Karin Leukefeld: „Deutschland sollte darauf drängen, die Sanktionen gegen Syrien aufzuheben, die Botschaft in Damaskus wieder zu eröffnen und sich von dem Plan, Präsident Assad zu stürzen, verabschieden. Sonst versinkt der ganze Nahe Osten im Chaos“, so die Nahost-Expertin. Über die Situation in Syrien sprach Gundula Zeitz mit der Ethnologin, Islam- und Politikwissenschaftlerin, die seit dem Jahr 2000 als freie Journalistin aus dem Nahen und Mittleren Osten für Tages- und Wochenzeitungen sowie den ARD-Hörfunk berichtet.Das Gespräch fand Ende November am Rande des 50. Solidaritätsbasars in Bremen statt.

Seit 2011 herrscht Krieg in Syrien. Mindestens 220.000 Menschen sind bereits umgekommen, mehr als vier Millionen ins Ausland geflohen, fast doppelt so viele Frauen, Männer und Kinder sind innerhalb Syriens auf der Flucht. Wie war die Situation in Syrien vor Beginn des Krieges?

Karin Leukefeld:
Seit dem Jahr 2000 hatte Syrien einen nie gekannten wirtschaftlichen Aufschwung und eine politische Öffnung erlebt. Bashar al-Assad galt als Reformer und rief die Bevölkerung auf, ihn dabei zu unterstützen. Vor allem die Jugend tat das auch. Die alte politische Garde hielt sich skeptisch zurück, in politischen Krisen wie der US-Invasion im Irak 2003 oder der Ermordung des libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri (2005) zogen die Geheimdienste die Zügel an und die Repression gegen die Reformbewegung nahm jeweils zu. Als autoritär geführter Staat mit 15 Geheimdiensten war Syrien ruhig und sicher. Nur wer die politischen roten Linien überschritt, war in Gefahr. Die politische und wirtschaftliche Öffnung brachte auch Probleme, auf die Syrien und die Regierung nicht vorbereitet waren.
Die enge wirtschaftliche Kooperation mit der Türkei brachte deren Investoren und Unternehmen ins Land, wo sie gute Gewinne erzielten. Die nationale syrische Ökonomie allerdings, die oft auf Familienbetrieben basierte, konnte nicht mehr mithalten. Viele Betriebe gingen ein. Eine langjährige Trockenheit hatte zudem der ländlichen, sehr konservativen Bevölkerung die Lebensgrundlage geraubt. Hunderttausende Menschen siedelten sich in Satellitenstädten um die großen Metropolen an. Mit der – lange geforderten – Privatisierung von Schulen und Universitäten entstanden viele Koranschulen, in denen die armen Habenichtse aus den Vorstädten aufgenommen wurden. Sie bildeten die erste Reihe der Demonstranten, die im März 2011 auf die Straßen gingen. Heute kämpfen sie vermutlich in den Reihen von bewaffneten Gruppen, wenn sie noch am Leben und nicht geflohen sind.

Am 18. März 2011 schoss die Polizei in Deraa auf eine Kundgebung gegen die Festnahme von Jugendlichen, die regimefeindliche Parolen auf Wände gesprayt haben. Vier Demonstranten starben. In der Folge demonstrierten tausende Syrer in Damaskus, Deraa und Nawa. Zahlreiche Menschen starben, als die Armee die Proteste niederschlug. Präsident Assad sah hinter den Aufständen ausländische Verschwörer – was war aus Ihrer Sicht der Auslöser des Krieges?

Karin Leukefeld:
Bei den ersten Protesten in Deraa ging es um Würde und Gerechtigkeit. Die Familien wollten ihre Kinder wieder haben, die Eltern forderten Respekt. Bei den ersten Demonstrationen in Deraa sprachen sich Teilnehmer (gegenüber dem arabischen Nachrichtensender Al Jazeera, Katar) für wirtschaftliche Chancengleichheit aus, gegen Korruption und sie wollten, dass der langjährige Ausnahmezustand aufgehoben wurde. Auch die Landfrage spielte eine Rolle. Die Regierung bot das Gespräch an, doch das gewaltsame Vorgehen der Geheimdienste torpedierte die Angebote.
Auf der anderen Seite (der Demonstranten) waren rasch Waffen im Spiel, die Leute aus Deraa wurden von Gruppen der Muslim Bruderschaft in Jordanien unterstützt. Die Grenze zu Jordanien ist keine 5 km von Deraa entfernt, seit Jahrzehnten gab es einen „kleinen Grenzverkehr“ südlich von Deraa. Die Demonstranten in Damaskus und Homs unterstützten die Leute von Deraa, wie sie sagten. In Homs entstand dann eine eigene, sehr starke Protestbewegung. Die syrische Armee kam erst sehr viel später, soweit ich mich erinnere im Juni 2011, ins Geschehen. Da waren bei Tartus Busse mit Rekruten bereits von bewaffneten Gruppen angegriffen worden. In Jisr as-Shugour wurde eine Kaserne angegriffen und Dutzende Rekruten getötet. Erst danach wurde die Armee aus den Kasernen geordert. Vor allem wegen der bewaffneten Akteure der Muslim Bruderschaft und bewaffneter Salafisten sprach die Regierung von „ausländischer Verschwörung“.
Im Nachhinein muss man sagen, sie hatten leider Recht. Im Juni 2011 fand in Damaskus eine große Konferenz von Oppositionellen statt, ohne Repression und in Anwesenheit vieler internationaler Journalisten. Das Angebot einer Konferenz des Nationalen Dialogs im Juli wurde aber nur von wenigen dieser Oppositionellen angenommen. Warum? Weil einerseits die innersyrische Opposition nach ihrer großen Konferenz umgehend von Oppositionellen aus dem Ausland als „Marionetten des Regimes“ angegriffen worden war und damit massiv unter Druck geriet. Und andererseits übten die Geheimdienste auf sie auch Druck aus. Im Juli wurde – praktisch parallel zu der Konferenz des Nationalen Dialogs – die „Freie Syrische Armee“ in der Türkei gegründet, einen Monat später der Syrische Nationalrat, ebenfalls in der Türkei. Damit war die Opposition gespalten, der ausländische Einfluss nahm zu.

Am 21. August 2013 tauchten in den sozialen Netzwerken schreckliche Videos aus Vororten von Damaskus auf: Männer, Frauen und Kinder waren darauf zu sehen, im Todeskampf oder schon tot, ohne äußere Verletzungen. Alles deutete darauf hin, dass Giftgas im großen Stil eingesetzt worden war. Verbreitet wurden die Bilder insbesondere von Aktivisten und Medien der syrischen Opposition, Assad sei dafür verantwortlich, hieß es. Wie schätzen Sie das ein?

Karin Leukefeld:
Ich teile die Ansicht von Seymour Hersh, ein respektierter US-Journalist und Pulitzerpreisträger, der lange recherchiert und Gespräche geführt hat und zu dem Ergebnis kommt, dass bewaffnete Gruppen im Umland von Damaskus (Islamische Armee) vermutlich den Giftstoff selber hergestellt und dorthin geschmuggelt hatte, um diesen ggf. einzusetzen und den Einsatz dann der syrischen Regierung anzulasten.
Zudem wies kürzlich in der Türkei im Parlament sogar ein Abgeordneter der Cumhuriyet Halk Partisi (kurz HP, deutsch „Republikanische Volkspartei“) ,Eren Erdem,auf einen Vorfall hin, den auch Hersh erwähnt, und den Erdem in Verbindung bringt mit dem Giftgaseinsatz bei Damaskus. Danach ermittelte die türkische Staatsanwaltschaft schon 2013 gegen fünf festgenommene türkische Bürger, die chemische Kampfstoffe an „Al Khaida im Irak“ geschmuggelt haben sollen. „Al Khaida im Irak“ hatte damals ihren Kampf nach Syrien ausgeweitet. Kurz nach Bekanntwerden der Ermittlungen damals wurden die fünf Festgenommenen wieder frei gelassen. Der ermittelnde Staatsanwalt aber wurde entlassen.
Es gibt also noch einiges aufzuklären. US-Präsident Barack Obama hatte 2013 einen Giftgaseinsatz zur „roten Linie“ erklärt. Sollte die überschritten werden, werde die USA Syrien angreifen. Es kam ja tatsächlich auch zu einem massiven Militäraufmarsch im Mittelmeer und die Bomber standen schon in Startposition. Doch vermutlich wurde Obama überzeugt, dass so ein Angriff und vor allem die unberechenbaren Folgen a) zu gefährlich seien und b) auch den Falschen treffen könnte. Die umgehende Bereitschaft Syriens, sich von dem Giftgasarsenal zu trennen, spricht eine eigene Sprache. Gerade jetzt soll ein Team internationaler Inspektoren die Vorfälle erneut untersuchen.

Der Wiener Syriengipfel hat kürzlich beschlossen, die Kommunikation zwischen den Oppositionsbewegungen des Landes zu unterstützen. Die Opposition sei völlig zersplittert und zerstritten, heißt es. Ist das so? Welche Oppositionsgruppen gibt es?

Karin Leukefeld:
Tatsächlich ist die Opposition sehr zersplittert. Der Grund dafür ist, dass fast von Anfang an regional und international die syrische Opposition auseinander dividiert wurde. Bei der großen Oppositionskonferenz im Juni 2011 in Damaskus im Semiramis Hotel waren 150 Personen sehr unterschiedlicher Herkunft anwesend und sie einigten sich auf drei Punkte: 1. keine Gewalt, 2. Rückzug bewaffneter Kräfte (Armee, Geheimdienste und bewaffnete Gruppen) aus Wohngebieten, 3. Freilassung der Gefangenen.
Noch am gleichen Abend wurden die Teilnehmer dieses Treffens von ausländischen Medien und im Ausland ansässigen syrischen Oppositionellen als „Marionetten des Regimes“ diffamiert. Ein vereinbarter Nationaler Dialog scheiterte. Die „Freunde Syriens“, die sich „um die USA versammelt hatten und den politischen Ton von Westen her – gegen die syrische Regierung – angeben, beanspruchten die Definitionshoheit darüber, wer syrische Opposition sei. Das wurde zunächst der in der Türkei gegründete Syrische Nationalrat, der sich später in Katar in die Nationale Koalition (Etilaf) mit Sitz in Istanbul verwandelte.
Bis heute wird diese Gruppe in deutschen Medien als die „wichtigste“ syrische Oppositionsgruppe bezeichnet. Was nicht gesagt wird ist, dass diese Gruppe in Syrien über verschwindend wenig Unterstützung verfügt. Das sage ich aus eigenen Erkenntnissen und auch basierend auf Gesprächen mit der UN. Das weiß natürlich auch die Bundesregierung. Inzwischen sind die politischen Gruppen in verschiedene Lager aufgeteilt, ein Lager wird von der Türkei, Saudi Arabien und Katar unterstützt und vermutlich auch finanziert, ein anderes wird von Ägypten und Moskau in erster Linie politisch unterstützt. Dann gibt es Gruppen, die vor allem von Moskau unterstützt wird und eine Gruppe wird von Kasachstan unterstützt.
Außerdem gibt es noch immer oppositionelle Gruppen in Syrien, die einfach ihre Arbeit fortsetzen. Darunter sind auch Gruppen, die mit der Regierung zumindest teilweise kooperieren, wie beispielsweise die Syrische Nationale Sozialistische Partei (SSNP), deren Vorsitzender Ali Haidar ein neu gegründetes Ministerium für nationale Versöhnung leitet. Die Partei ist auch im Parlament vertreten. Und es gibt Parteien, die die der demokratischen Union (PYD) oder das Nationale Koordinationskomitee für demokratischen Wandel, die ebenfalls in Syrien aktiv sind.
Im Land gibt es nach UN-Angaben zusätzlich rund 1500 bewaffnete Gruppen, von denen vor allem islamistische Kampfverbände mit Unterstützung der Türkei, Saudi Arabiens und Katars von sich reden machen. Immer mehr lokale Gruppen legen ihre Waffen nieder, es gibt mehr als 40 lokale Waffenstillstände. Der letzte wurde vor wenigen Tagen in Homs, im Stadtteil Al Waer erreicht. Darüber berichten deutsche Medien kaum.

Wie kam es zur Militarisierung der verschiedenen Gruppen in Syrien?

Karin Leukefeld:
Darüber gibt es natürlich verschiedene Darstellungen. Die einen sagen, die Bevölkerung habe sich bewaffnet, nachdem sie von Regierungstruppen niedergeschossen worden seien. Tatsächlich griff die syrische Armee sehr spät in den Konflikt ein – was viele Syrer ihr vorgeworfen haben – aber die Geheimdienste haben bewaffnet eingegriffen. Gegen die Anordnung des Präsidenten übrigens, was dessen Position erheblich schwächte.
Andere sagen, unter den Demonstranten seien von Anfang an Bewaffnete gewesen. Ein (Polizei-) Arzt hat mir beispielsweise berichtet, er sei im Einsatz gewesen, als es eine Demonstration bei Damaskus gegeben habe. Die eingesetzte Polizei habe den Befehl gehabt, keine Waffen zu tragen. Bei ihm in der Klinik seien an dem Tag 6 getötete Polizisten eingeliefert worden, die alle mit Kopfschuss, also gezielt getötet worden seien. Er sei bereit, dass vor der UN zu Protokoll zu geben, sagte er.
Heute weiß man, dass politische Gegner der syrischen Regierung – vor allem die Muslim Bruderschaft, die in Syrien verboten ist – schnell zu den Waffen griff. Sie hatten lange auf eine solche Gelegenheit gewartet und wurden dabei von der Türkei und Katar unterstützt. Und Saudi Arabien, in Absprache mit den USA, unterstützte auch islamistische Kämpfer gegen die syrische Regierung. Das kann man in einem Lagebericht des US-Militärgeheimdienstes (DIA) von August 2012 nachlesen. Auch der Vize-US-Außenminister Joe Biden hat erklärt, dass die US-Verbündeten am Golf ganz versessen darauf gewesen seien, die Regierung von Bashar al-Assad zu stürzen. Für Millionen US-Dollar hätten sie Waffen auch an Al Khaida geliefert.

Die radikale Terrororgansiation „Islamischer Staat“ soll etwa 50 Prozent der Fläche Syriens im Norden und Osten unter ihre Kontrolle gebracht haben. Was hat den IS so stark gemacht?

Karin Leukefeld:
Die Gegend, in der sich der so genannte „Islamische Staat“ ausgebreitet hat, zieht sich entlang des Euphrat – eine wichtige Transportroute und Wasserspender – und entlang strategisch wichtiger Ost-West-Verbindungsrouten (Mossul-Rakka) sowie über die Grenze in die Türkei. Diese Verbindungsrouten ziehen sich durch Wüstengebiete, die – bis auf Stämme und Beduinen – weitgehend unbewohnt sind.
Hervorgebracht wurde die Gruppe durch die völkerrechtswidrige US-geführte Invasion in den Irak 2003. Davor gab es keine Al Khaida im Irak oder Syrien. 2004 entstand dann ein so genannter „Islamischer Staat im Irak“ mit schweren Attentaten auf die Bevölkerung. Die Gruppe wurde von den US-Truppen gemeinsam mit westirakischen Stammesverbänden, die von den USA bezahlt wurden – niedergekämpft. Reste überwinterten einige Jahre im Grenzgebiet zwischen Irak und Syrien, bei dort siedelnden Stämmen.
Mit Beginn des Krieges in Syrien erstarkten sie, es gab wieder viele Waffen und Geld. Eine radikale islamistische Mobilisierung über Prediger aus dem Golf – verbreitet per Satellitenfernsehen – rief zum Kampf der Sunniten gegen die ungläubigen Schiiten auf, zu denen diese Prediger auch Bashar al-Assad rechnen. Er ist von der religiösen Herkunft her ein Alawit, eine Strömung des schiitischen Islam.
Tatsächlich ist Assad, wie auch sein Vater, ein vehementer Verfechter eines säkularen, nicht religiös ausgerichteten Landes. Auch die Medien haben schließlich ihren Teil zur Stärkung der Gruppe beigetragen. Die Gruppe verfügt offenbar über professionelle PR-Unterstützung – sie verbreitet unmittelbar und in verschiedenen Sprachen ihre Erklärungen. Im Übrigen verweise ich erneut auf den Lagebericht des US-Militärgeheimdienstes (DIA), der das Erstarken der Gruppe gut beschreibt.

Inzwischen ist bekannt, dass die Türkei neben Saudi-Arabien und Katar zu den wichtigsten Unterstützern des IS gehört: Zwar bekämpft Ankara den IS ein bisschen, um nach außen zu demonstrieren, dass man etwas tut. Faktisch aber trägt das Regime von Recep Tayyip Erdogan bislang zum Überleben des IS aktiv bei. Auch andere Terrorgruppen werden von der Türkei unterstützt. Welches Interesse der Türkei steckt dahinter?

Karin Leukefeld: Die Türkei wird von einer Partei geführt, der Adalet ve Kalkınma Partisi (kurz AKP, deutsch „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ oder „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“), die der Muslim Bruderschaft nahe steht. Die Türkei will als Regionalmacht auftrumpfen und im Jahr ihres 100. Bestehens (2023) die zehntstärkste Ökonomie der Welt sein. Zudem wird sie unterstützt von der NATO und die hat zugesehen, wie der so genannte „Islamische Staat“ stark wurde.
Ziel der NATO ist es, den Einfluss des Irans, Russlands und des Ostens in Syrien zu zerschlagen. Das bestätigen die kürzlich beschlossenen Kriegseinsätze von NATO-Staaten wie Frankreich, Deutschland und Großbritannien in Syrien. Syrien ist geopolitisch ein wichtiges Land – es ist wie eine Brücke zwischen Europa und Asien und der Arabischen Halbinsel. Zudem laufen durch Syrien wichtige Transportrouten für Öl und Gas und es gibt dort Wasser (Euphrat, Golan, Küstenregion).
Im östlichen Mittelmeer, an der Küste der Levante, gibt es zudem große Gasvorkommen. In einer Zeit, in der die Rohstoffe knapp werden, will der Westen diese geostrategisch wichtige Region unter seine Kontrolle bringen. Der Türkei kommt als einflussreiche Regionalmacht dabei eine zentrale Rolle zu.

Die Bundesregierung hat beschlossen, militärisch in den Anti-Terror-Krieg gegen den IS einzugreifen. Ist das der richtige Weg? Welche Möglichkeiten gibt es stattdessen?

Karin Leukefeld:
Das Gegenteil wäre richtig. Syrien und die Region brauchen dringend eine Entmilitarisierung. Die UNO muss bei dem Versuch eine politische Lösung zu finden, nicht nur verbal sondern praktisch unterstützt werden. Deutschland muss seine einseitige Parteinahme gegen die syrische Regierung beenden. Völkerrechtswidrige, grenzüberschreitende militärische und andere Maßnahmen müssen aufhören. Syrien ist ein souveräner Staat, der respektiert werden muss.
Die Botschaften in Damaskus sollten wieder eröffnet, die EU-Sanktionen gegen Syrien müssen beendet werden. Diese Sanktionen haben den illegalen Handel mit Öl und Gas durch islamistische Kampfgruppen erst möglich gemacht. Auf die Türkei muss Druck ausgeübt werden, die Grenzen für Kämpfer und Waffentransporte zu schließen, Rüstungsexporte an die Golfstaaten müssen gestoppt werden, das betrifft auch die Lizenzvergabe. Alles das hätte die NATO schon lange tun können. Dass das nicht geschehen ist zeigt, dass es nicht gewollt ist. Der Krieg und die Zerstörung des Landes sollen offenbar weiter gehen.

Sie haben Syrien einmal als „Mosaik“ bezeichnet: Dort leben verschiedenste ethnische und religiöse Gruppen – von Arabern bis Tscherkessen, von Sunniten, Schiiten über Ismailiten bis hin zu fast zwei Dutzend christlichen Gemeinden. Ist ein friedliches Miteinander überhaupt möglich? Welche Rolle spielt das „Ministerium für nationale Versöhnung“?

Karin Leukefeld:
Syrien hat über Jahrtausende hin viele Herrscher und Händler kommen und gehen sehen. Damaskus, auch Aleppo gehören mit 10.000 Jahren zu den am längsten bewohnten Städten der Welt. Wer mit offenen Augen, Ohren und ohne Vorurteile das Land besucht, wird das spüren. Jeder Mensch hat zwei Zuhause, heißt es dort: das eigene Land und Syrien. In Syrien gibt es ein sehr besonderes gesellschaftliches Klima, sehr geduldig und bescheiden sind die Menschen. Und stolz auf ihr Land. Die Hetze und Militarisierung der vergangenen Jahre haben natürlich Spuren hinterlassen, aber die mehr als 40 Waffenstillstände im Land zeigen, wie stark das Zusammengehörigkeitsgefühl der Syrer noch immer ist.
Hier setzt auch das bereits erwähnte Ministerium für nationale Versöhnung an, das seit seiner Gründung 2012 unzählige Verhandlungsversuche begleitet, aber auch viele Rückschläge erlitten hat. Es arbeitet mit einem landesweiten Netzwerk lokaler Akteure, ich habe viele dieser Aktivitäten verfolgt und darüber berichtet. Manche haben ihr Engagement für Versöhnung mit dem Leben bezahlt. Ihnen folgten neue, die die Vermittlung fortgeführt haben.
Während die regionalen und internationalen Akteure Syrien nach ihren Vorstellungen und Interessen aufteilen, wollen die Syrer ihr Land und ihre Gesellschaft heilen und wieder aufbauen. Ließe man sie gewähren, könnten sie in einem halben Jahr viele Fronten beruhigen, ist ein UN-Diplomat überzeugt, mit dem ich mehrmals gesprochen habe. Es sind die ausländischen Einflüsse, die sie daran hindern. Ich habe tatsächlich die Gesellschaft als „Mosaik“ beschrieben, aber ein Mitarbeiter des Versöhnungsministeriums sagte: Nein, ein Mosaik könne zerbrechen. Die syrische Gesellschaft sei stärker als das, sie sei miteinander verwoben. Fest wie ein Teppich.

Frau Leukefeld, vielen Dank für das Gespräch!