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Buchtipp:

Neuerscheinung, August 2019

Norman Paech beleuchtet das weit entfaltete Institutionengefüge, das sich seit Kodifizierung der Menschenrechte herausgebildet hat, deren Ursprung bis zur »Magna Charta libertatum« zurückverfolgt wird. Er diskutiert den Anspruch universeller Geltung der Menschenrechte, der schon durch die immer noch fortwährende Ungleichheit von Mann und Frau, den nach wie vor herrschenden eurozentrischen Blick und die Aufnahme des Eigentums in Frage gestellt wird. Große Bedeutung wird den sozialen und ökonomischen Rechten beigemessen ebenso wie den Menschenrechten der Dritten Generation, dem Minderheitenschutz, dem Recht auf Selbstbestimmung, auf Frieden, auf Entwicklung. Menschenrechte werden in jüngerer Zeit als Standardlegitimation einer aggressiven Außenpolitik und militärischer Interventionen herangezogen. Sie verdecken die strategischen Interessen der Sicherung von Rohstoffen, Handelswegen und Investitionen. Diese Instrumentalisierung für Weltmachtpolitik bedeutet jedoch ihre Perversion und den Verrat an ihren historischen Quellen.

Norman Paech, Prof. Dr. iur., *1938; Lehrte bis zu seiner Emeritierung Politische Wissenschaften an der Fakultät Jura II der Hamburger Universität und Öffentliches Recht an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP). 2005 bis 2009 MdB und Außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE.


Norman Paech
Menschenrechte
Geschichte und Gegenwart – Anspruch und Realität
PapyRossa Verlag
Neue Kleine Bibliothek 279
221 Seiten, € 16,90 [D'>
ISBN 978-3-89438-710-5




Vorabdruck aus dem Buch:

Menschenrechte Geschichte und Gegenwart – Anspruch und Realität

Von Norman Paech


Schon ein flüchtiger Blick auf die bald 75jährige Geschichte der UNO lehrt uns, dass – trotz aller Niederlagen und Defizite dieser Organisation und ihrer Charta – in dieser Zeit das Völkerrecht einen nie zuvor in der Geschichte erlebten schnellen Wandel und eine unvergleichlich progressive Kodifizierung erfahren hat. Dazu gehört die Entwicklung des Kriegsverbotes (»Briand-Kellogg-Pakt« von 1928) zum Gewalt- und Interventionsverbot (Art. 2 Ziff. 4 der Charta der Vereinten Nationen). Dazu gehört ferner die Durchsetzung des Rechts auf Selbstbestimmung in der Epoche der Dekolonisation. Dieses Recht, das erstmals in den Deklarationen der Französischen Revolution auftauchte, brauchte knapp zweihundert Jahre, bis es über die Stationen des Völkerbundes und der Vereinten Nationen erst in den 1970er Jahren als zwingendes Recht allgemein anerkannt wurde.

Nationale Souveränität

Zu verweisen ist darüber hinaus auf eine eher konservative Funktion der UN-Charta, die den Bestrebungen der Großmächte, Prinzipien des Völkerrechts zu beseitigen, Widerstand entgegensetzt. Dies gilt z. B. für das Prinzip der nationalen Souveränität (Art. 2 Ziff. 1 UN-Charta), dem vor allem vor dem Hintergrund der zunehmenden Integration der europäischen Staaten in einer politischen Gemeinschaft mit weitgehender Souveränitätsverlagerung auf die Institutionen der Europäischen Union die Zukunftsfähigkeit abgesprochen wurde. Bliebe es bei verbalen Angriffen auf die Souveränität, würden sich daraus für die betroffenen Staaten keine größeren Probleme ergeben. Die Kriege der letzten zwanzig Jahre – von der Bombardierung Jugoslawiens 1999 bis zu den Invasionen in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien sowie die gegenwärtige Kriegsdrohung gegen Iran, aber auch die vielfältigen politischen und ökonomischen Eingriffe in Staaten der Peripherie – zeichnen jedoch ein zunehmend gefährlicheres Szenario.

Aus der Sicht des Südens wird die Bedeutung der Souveränität für die Unabhängigkeit der Staaten nach wie vor sehr viel deutlicher erkannt und betont. Walden Bello, Direktor des Bangkoker Forschungsinstituts »Focus on the Global South« und Professor an der Universität der Philippinen in Diliman, formuliert stellvertretend für viele Stimmen aus dem Süden die zentrale Bedeutung der Souveränität für die Staaten, die sich nach wie vor in den unteren Rängen der Weltpyramide befinden: »Nun mag für einige Leute im Norden, die zu Staaten gehören, die den Rest der Welt beherrschen, nationale Souveränität ein Kuriosum sein. Für uns im Süden dagegen ist die Verteidigung dieses Prinzips eine Angelegenheit von Leben und Tod, eine zwingende Bedingung für die Realisierung unserer kollektiven Bestimmung als Nationalstaat in einer Welt, in der die Mitgliedschaft in einem Nationalstaat eine grundlegende Bedingung für den ungehinderten Zugang zu den Menschenrechten, zu politischen und wirtschaftlichen Rechten ist. Ohne einen souveränen Staat als Rahmen sind Zugang und Nutznießung dieser Rechte gefährdet.« Da die Nationalstaaten immer noch die entscheidenden gesellschaftlichen Organisationsformen sind, wird eine offensive, ja »aggressive« Verteidigung der staatlichen Souveränität vorgebracht, »denn der Imperialismus ist nun einmal so, dass er es als Präzedenzfall für andere, in der Zukunft liegende Fälle benützt, wenn man ihm einmal den kleinen Finger reicht.«

Den großen Mächten geht es um die Erweiterung des Legitimationsrahmens für den Krieg als Mittel der Politik. Zur Rechtfertigung ihrer interventionistischen Absichten bedienen sich diese Staaten vornehmlich dreier moderner Gründe:

– Kampf gegen den internationalen Terror,

– Verhinderung des Erwerbs bzw. Beseitigung bereits bestehender Massenvernichtungsmittel

– Schutz der Menschenrechte.

Dabei fällt auf, dass in dem Maße, in dem der Terror oder die Massenvernichtungsmittel als Begründung zweifelhaft werden, die Menschenrechte als »Ausfallbegründung« in den Vordergrund treten. Die »humanitäre Intervention« ist seit ihrer Neuerfindung zur Rechtfertigung der Bombardierung Jugoslawiens im Frühjahr 1999 zur ständigen Reservelegitimation völkerrechtswidriger Interventionen geworden. Der Sündenfall des ganz offensichtlich völkerrechtswidrigen Überfalls auf Jugoslawien (keine Selbstverteidigung gem. Art. 51, kein UN-Mandat gem. Art. 39/42 UN-Charta) wird auch heute noch als klassischer Fall der »humanitären Intervention« gehandelt. Die humanitäre Sorge und Argumentation entsprach zweifellos der Motivation etlicher ihrer Befürworter. Der Schaden, den dieser Fall jedoch für die Kultur der internationalen Beziehungen und die Geltung der internationalen Menschenrechte anrichtete, geht weit über seine zweifelhaften Erfolge hinaus. Aus dem geschärften Blick eines unbeteiligten Beobachters wie Walden Bello lassen sich zumindest drei Konsequenzen sehr deutlich benennen.

»Humanitäre Intervention«

Zunächst hat der Krieg dazu beigetragen, die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen zu unterminieren, die bewusst übergangen wurden, da deren Zustimmung zum Militäreinsatz nicht erfolgte. Dafür wurde die NATO vorgeschoben, die verdeckte, dass der Krieg zu 95 Prozent von der U.S. Army durchgeführt wurde. Zusätzlich verhalf die NATO der Bundesregierung zu ihrem nach dem Zweiten Weltkrieg erstmaligen Auftritt auf einem internationalen Kriegsschauplatz. Dieser Angriffskrieg war zudem eindeutig völkerrechtswidrig, was Gerhard Schröder (SPD), der damalige Bundeskanzler und Kriegsherr, 2004 im Fernsehsender Phoenix auch unverblümt eingestand. Er hatte damit ein neues Kapitel deutscher Militärpolitik aufgeschlagen. Sodann vergrößerte der Krieg der NATO – mit der Zerschlagung des noch verbliebenen Staatenzusammenhangs auf dem Balkan – das Sicherheitsvakuum Osteuropas.

Dass mit der Bombardierung von zivilen Einrichtungen – wie Elektrizitätswerke, Brücken und Wasserversorgung – die Genfer Konventionen von 1949 und die Zusatzprotokolle von 1977 verletzt wurden, ist zwar der gerichtlichen Überprüfung entzogen worden, wird aber international nicht mehr ernsthaft angezweifelt. Das Ausmaß der Zerstörungen in Jugoslawien wird durch keinen abstrakten Gewinn an Menschenrechten kompensiert, wo der konkrete Gewinn sowieso nicht mehr sichtbar ist. Schließlich, und das ist wohl das bedrohlichste Ergebnis dieses Krieges, diente er, zur »humanitären Intervention« verklärt, gleichsam als Türöffner für die künftigen Verstöße gegen das Prinzip der nationalen Souveränität, den Missbrauch der Menschenrechte und die damit verbundenen Kriege.

Die Invasion in Afghanistan 2001 wurde unter dem Schock der Ereignisse des 11. September weitgehend akzeptiert und von der NATO mit der erstmaligen Ausrufung des Bündnisfalles gemäß Artikel 5 NATO-Vertrag gestützt. Die völkerrechtliche Grundlage war außerordentlich dünn, denn den USA gelang es nicht, ein Mandat des UN-Sicherheitsrats zu bekommen. Allgemein setzte sich die Auffassung durch, es habe sich dabei um Selbstverteidigung nach Artikel 51 UN-Charta gehandelt, die auch von den nachfolgenden Resolutionen des UN-Sicherheitsrates nie in Zweifel gezogen wurde. Obwohl schon bald nichts eindeutig Identifizierbares mehr von dem eigentlichen Ziel der Angriffe, der Terrororganisation Al-Qaida, in Afghanistan vorhanden war, stehen die internationalen Truppen auch 2019 noch im Land. Schon längst ist Al-Qaida durch die Taliban ersetzt worden und damit der immer weiter ausufernde Krieg zur »humanitären Intervention« mutiert, um die Afghanen von den menschenrechtsverachtenden Taliban zu befreien.

Dabei sind einige Konsequenzen deutlich geworden. Offensichtlich ist die Etablierung eines weiteren US-amerikanischen Protektorats in strategisch wichtiger Lage. Zweitens wird in Afghanistan – wie in Jugoslawien und Libyen – entgegen den Genfer Regeln kaum noch zwischen zivilen und militärischen Zielen unterschieden. Die Anzahl ziviler Opfer steigt ständig und kann schon lange nicht mehr als unvermeidbarer Kollateralschaden ausgegeben werden. Das hat drittens nicht nur zu einer politischen und humanitären Situation geführt, die in vielen Aspekten schlechter ist als zur Zeit der Talibanherrschaft (im Hinblick auf Sicherheit und Ordnung, Korruption, Drogenanbau und -handel), sondern hat die Taliban erneut gestärkt.

Lieferte Europas »zivilisatorische Mission« im 19. Jahrhundert das ideologische Futter für die Kolonisierung der Welt, so erfüllen die europäischen Menschenrechte heute einen ähnlichen Zweck zugunsten einer »humanitären Globalisierung«. Sie sind der Kern der »Europäischen Wertegemeinschaft«. Würden sie zu einer Europäischen Grundrechtecharta verarbeitet und für Europas Bürgerinnen und Bürger auch mit einem Klagerecht versehen, so könnte das kaum Widerspruch provozieren. Wenn sie jedoch offensiv gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker gestellt und dessen Vertreter gleichzeitig als »Feinde der individuellen Menschenrechte« denunziert werden, so ist die Botschaft klar. Bot das Selbstbestimmungsrecht die Legitimation für die Dekolonisation, müssen die Menschenrechte nunmehr für die Rekolonisierung herhalten. In den Worten des ehemaligen EU-Kommissars für auswärtige Beziehungen, Christopher Patten, aus dem Jahr 2000: »Wo Recht und Gesetz zusammenbrechen und die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, ist die Krise unausweichlich, und am Ende steht dann der militärische Eingriff. Menschenrechtspolitik ist allemal Geopolitik.« Dabei verblüfft kaum, dass diese »humanitären Eingriffe« entgegen dem universalen Anspruch der Menschenrechte durchaus selektiv erfolgen: Zwar auf dem Balkan und in Libyen, weil gleichsam im eigenen Haus bzw. in seinem Vorgarten, nicht aber in der Türkei, da von strategischer Bedeutung, und auch nicht in Tschetschenien und Tibet, da Russland und China immer noch Nuklearmächte mit enormer ökonomischer Bedeutung für die NATO-Länder sind.

Das tiefe Misstrauen und die tiefe Skepsis werden nicht durch Begriff und Inhalt der Menschenrechte hervorgerufen, sondern durch ihre Instrumentalisierung in der Rhetorik der Ideologen und deren militanten Einsatz zur Erweiterung der europäischen zu einer weltweiten Wertegemeinschaft. Die Menschenrechte spielen in dieser Ideologie der Werte bloß eine propagandistische, eben keine substantielle Rolle. Während ein Gremium von 62 eher unbekannten Parlamentariern noch über der Formulierung der Europäischen Grundrechtecharta brütete, definierten die Staats- und Regierungschefs der damals 19 NATO-Staaten mit ihren Außen- und Verteidigungsministern in Washington am 24. April 1999, also inmitten Jugoslawien-Krieges, die harten materiellen Interessen der Wertegemeinschaft. Wo immer im »euro-atlantischen Raum«, der tendenziell grenzenlos ist, ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von nationalen Staaten zu lokaler oder regionaler Instabilität führen, wo Terrorakte, Sabotage und organisiertes Verbrechen sowie die Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen die Wertegemeinschaft bedrohen, ist in Zukunft mit dem militärischen Eingreifen der NATO zu rechnen. Hier haben die Menschenrechte erst ihre politische Heimat, die Wertegemeinschaft ihre volle Dimension und die humanitäre Globalisierung ihren definitiven Sinn gefunden.

»Responsibility to Protect«

Eine besondere Rolle spielt dabei das neue Konzept der »Responsibility to Protect« (R2P), das eine von der kanadischen Regierung eingerichtete »International Commission on Intervention and State Sovereignty« 2001 entwickelt hat, und das von der UN-Generalversammlung 2005 offiziell anerkannt wurde. Der damalige Generalsekretär der UNO, Kofi Annan, unzufrieden mit dem Vorgehen der NATO in Exjugoslawien, hatte die zentrale Frage gestellt: »Wenn die humanitäre Intervention ein in der Tat inakzeptabler Angriff auf die Souveränität ist, wie sollte man dann auf Ereignisse wie in Ruanda oder Srebrenica antworten – auf schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte, welche jegliche Grundsätze unserer allgemeinen Menschlichkeit verletzen?« Der Bericht ist zum Katechismus des Menschenrechtsschutzes zwischen den Staaten geworden. Seine zentrale These lautet, dass »souveräne Staaten eine Verantwortung haben, ihre eigenen Bürger vor vermeidbaren Kata­strophen – vor Massenmord und Vergewaltigung, vor Hunger – zu schützen, dass aber, wenn sie nicht willens oder nicht fähig dazu sind, die Verantwortung von der größeren Gemeinschaft der Staaten getragen werden muss«.

Allerdings legt er damit die Verantwortung nicht in das Ermessen einzelner Staaten und entlässt sie nicht aus dem Gewaltverbot des Artikels 2 Ziffer 4 UN-Charta. Unmissverständlich heißt es in dem Report: »Bevor eine militärische Intervention durchgeführt wird, muss in jedem Fall die Autorisierung durch den Sicherheitsrat gesucht werden. Jene, die nach einer Intervention rufen, müssen formal um eine solche Autorisierung nachsuchen, oder der Sicherheitsrat muss von sich aus die Initiative ergreifen oder der Generalsekretär gemäß Artikel 99 UN-Charta«. Dieses spiegelt nichts anderes als den aktuellen Stand des Völkerrechts wider. Die UN-Generalversammlung hat das einige Jahre später bestätigt, als sie 2005 das neue Konzept annahm und in ihr Abschlussdokument einarbeitete. Unter Ziffer 139 heißt es da zusammenfassend: »Die internationale Gemeinschaft hat durch die Vereinten Nationen auch die Pflicht, diplomatische, humanitäre und andere friedliche Mittel nach den Kapiteln VI und VIII der Charta einzusetzen, um beim Schutz der Zivilbevölkerung vor Mord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit behilflich zu sein. In diesem Zusammenhang sind wir bereit, im Einzelfall und in Zusammenarbeit mit den zuständigen regionalen Organisationen rechtzeitig und entschieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat im Einklang mit der Charta, namentlich Kapitel VII, zu ergreifen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offensichtlich dabei versagen, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen«. Es bleibt wichtig, die Bindung der Entscheidung über Zwangsmaßnahmen an den Sicherheitsrat zu betonen, weil immer wieder versucht wird, dem R2P-Konzept zur Sicherung der Menschenrechte Rechtsverbindlichkeit zuzusprechen, die es nicht hat, und die Staaten von der strikten
Bindung an den UN-Sicherheitsrat zu entpflichten.

Da nun 2011 der UN-Sicherheitsrat in den beiden Resolutionen 1970 und 1973 die libysche Regierung aufgefordert hat, die Schutzverantwortung gegenüber der libyschen Bevölkerung wahrzunehmen, werden diese Resolutionen als erste Bestätigungen des R2P-Konzepts durch den UN-Sicherheitsrat gepriesen, ja als »historischer Durchbruch« für die militärische Erzwingung von Menschenrechtsprinzipien. Widmen wir diesem modernen Kolonialkrieg noch einige Aufmerksamkeit.

Was John Pilger in drastischen Worten zusammenfasst, wird in zahlreichen anderen kritischen Beiträgen detailreich belegt: »Der europäisch-amerikanische Überfall auf Libyen hat nichts damit zu tun, dass jemand beschützt werden soll, solcherlei Unsinn glauben nur unheilbar Naive. Es ist die Antwort des Westens auf die Volkserhebungen in strategisch wichtigen und ressourcenreichen Regionen der Erde und der Beginn eines Zermürbungskrieges gegen den neuen imperialen Konkurrenten China.«

Während der Sicherheitsrat die Situation in Libyen als untragbar ansah, blieb die gewaltsame Niederschlagung der Demonstrationen in Bahrain durch bahrainisches und saudiarabisches Militär in der EU und im UN-Sicherheitsrat ohne entsprechende Reaktion. Die damalige Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCR), Navanethem Pillay, bezeichnete die militärischen Aktionen zwar als »schockierende und eklatante Verletzung internationalen Rechts«, diese Kritik blieb jedoch ohne konkrete Folgen. Der ehemalige Botschafter der USA in Deutschland, John Kornblum, gab Ende März 2011 im Deutschlandradio eine ebenso aufrichtige wie überzeugende Erklärung für diese Doppelmoral: »Das Problem ist, (…) dass die Interessen des Westens anders sind – vor allem unsere Interessen in Saudi-Arabien und in den Golfstaaten. Es gibt (…) zumindest einen, Bahrain, der wirklich wichtig ist für die Vereinigten Staaten. (…) Da hat man die Prinzipien jetzt ein bisschen verletzt, indem man zumindest in die andere Richtung geschaut hat, als die Saudis militärisch eingegriffen haben, um eine demokratische Bewegung zu unterdrücken.« Nichts anderes hat John Pilger zwei Wochen später in seiner Kritik behauptet, denn in Bahrain befindet sich mit dem Hauptquartier der Fünften US-amerikanischen Flotte der militärische Hauptstützpunkt der USA im Mittleren Osten, und Saudi-Arabien ist aufgrund seines Ölreichtums und seines bedingungslos proamerikanischen Herrscherhauses der engste Verbündete der USA in der Region.

Weg mit Ghaddafi

Vor allem aber begründen das Ausmaß des Luftkrieges gegen Libyen und die ihn begleitenden Äußerungen aus NATO-Kreisen grundsätzliche Zweifel an der vorgeblichen Zielsetzung der Intervention, so dass z. B. der Rechtswissenschaftler Reinhard Merkel zu dem Urteil kommt: »Der demokratische Interventionismus, propagiert 2003 (…) und jetzt in der euphemistischen Maske einer Pflicht zur kriegerischen Hilfe im Freiheitskampf wiedererstanden, ist politisch, ethisch und völkerrechtlich eine Missgeburt.« Auch der Moralphilosoph Michael Walzer hält die Motive für fragwürdig, die Ziele für unklar und die Intervention deswegen für durch nichts zu rechtfertigen. Bei genauerer Betrachtung der Umstände sind allerdings die Ziele durchaus klar erkennbar gewesen, so dass man sogar zu dem Schluss kommen muss, dass ein »humanitäres« Mandat nur als Türöffner für einen Krieg kolonialer Prägung benutzt und eine völkerrechtliche Ermächtigung bewusst erschlichen und missbraucht worden ist.

Am 14. April 2011 veröffentlichten der Figaro (Paris), The Times (London), The Washington Post und The New York Times einen gemeinsamen Beitrag von Präsident Nicolas Sarkozy, Premier David Cameron und Präsident Barack Obama, in dem sie eindeutig den Sturz Muammar Al-Ghaddafis als Ziel der militärischen Intervention bezeichneten: Es sei »unmöglich, sich eine Zukunft für Libyen mit Ghaddafi an der Macht vorzustellen«. Diese Erklärung war keine Überraschung, da aus Paris und London schon einen Monat zuvor derartige Bekenntnisse zu hören gewesen waren. Am 5. März hatte Obama das erste Mal Ghaddafis Rücktritt gefordert und am 9. März gemeinsam mit Cameron bekräftigt, »dass angesichts der Kämpfe in Libyen keine Option außer acht gelassen werde, um so schnell wie möglich der Gewalt ein Ende zu bereiten und die Entmachtung Ghaddafis herbeizuführen«. Sarkozy gab am selben Tag in einer Fernsehansprache den Sturz Ghaddafis als Ziel aus, und die Staats- und Regierungschefs erklärten zwei Tage später gemeinsam, dass »Oberst Ghaddafi die Macht unverzüglich abgeben muss«.

Alfred Ross, Präsident des »Institute for Democracy Studies« in New York, wirft der NATO sogar vor, die Weltöffentlichkeit und den UN-Sicherheitsrat in bezug auf die Situation in Libyen systematisch belogen und den »Regime-Change« von langer Hand vorbereitet zu haben. Dies wurde etwas später sogar, am 9. Dezember 2011 in Paris, von Roland Dumas, dem ehemaligen französischen Außenminister, auf einer internationalen Konferenz bestätigt.

Auch der Vorwurf des ehemaligen Präsidenten der Südafrikanischen Republik, Thabo Mbeki, dass der Westen wie in den Kolonialjahren so auch in diesem Konflikt ohne die Völker Afrikas seine Interessen durchsetze, passt in dieses Bild. Der Sicherheitsrat der Afrikanischen Union (AU) hatte schon am 23. Februar, acht Tage nach Beginn der ersten Demonstrationen, beschlossen, eine hochrangige Delegation nach Libyen zu entsenden, um die Lage zu eruieren. Am 10. März erneuerte er den Beschluss, ein Ad-hoc-Komitee von fünf afrikanischen Staatschefs nach Libyen zu entsenden. Zugleich wandte er sich gegen »ausländische Militärinterventionen in jeglicher Form«. Doch eine Woche später ermöglichte der UN-Sicherheitsrat mit seiner Resolution das militärische Eingreifen und verweigerte der AU-Delegation den Besuch von Tripolis und Bengasi. Ghaddafi hatte akzeptiert, unter Aufsicht der AU Gespräche mit der Opposition aufzunehmen, doch das lag nicht im Interesse des Westens. »So haben sie es schon in den Kolonialjahren gehalten, als sie unseren Kontinent beherrschten. Es sollte also niemanden überraschen, wenn die Völker Afrikas allmählich das Vertrauen in den Willen multilateraler Institutionen wie der Vereinten Nationen verlieren, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern«, lautete der resignierte Kommentar Thabo Mbekis.

Werden die Menschenrechte nicht aus diesem gefährlichen Verbund geostrategischer Interessen und humanitärer Intervention gelöst, werden sie weiter für die nächsten Kriege benutzt. Die nächsten Kandidaten sind schon genannt: Iran und Venezuela. Aber gleichgültig, wer auf die Liste der »Achse des Bösen« gesetzt und mit Krieg bedroht wird, der Schaden ist bereits bei dem Konzept der Menschenrechte entstanden. Seine Instrumentalisierung durch die Regierungen mächtiger Staaten zur Bedrohung der Souveränität von anderen, schwächeren Staaten diskreditiert es in seinem ursprünglichen Anspruch, die individuellen Rechte der Menschen gegen Macht- und Willkür des eigenen Staates zu schützen. Die einzige Möglichkeit, die bleibt, besteht darin, dieser Politik, die in den Krieg treibt, entschieden entgegenzutreten und der »humanitären Intervention« die Berufung auf die Menschenrechte zu versagen.