E-Mail-Verteiler
Hier können Sie sich in unseren E-Mail-Verteiler eintragen

Termine

Corona und die Demokratie

von Bernhard Trautvetter, (Essener Friedensforum, Bundesausschuss Friedensratschlag), erschienen in: Hinter den Schlagzeilen, Magazin für Kultur & Rebellion, gegründet von Konstantin Wecker, 2. April 2020

Die durch Corona ausgelöste Ausnahmesituation kann von Law and Order-Politiker*innen ausgenutzt werden, die den Notstandsstaat immer weiter etablieren wollen. Davor zu warnen, ist ein Gebot der Stunde. Kapitalismus an der Macht stellt immer und zumal in unsicheren Zeiten eine gesteigerte Gefahr für Grund- und Menschenrechte dar. Es geht um Machterhalt, das lehrt die Geschichte. Die Corona-Krise ist Anlass für Wachsamkeit gegenüber vielen Gefahren – dies betrifft Gefahren für die Gesundheit, aber auch für die Demokratie, angefangen bei kurzfristig sinnvoll erscheinenden Vorsichtsmaßnahmen, die durch Militaristen und Diktatoren ausgenutzt werden.

Mit Soldaten gegen Viren

Es geht auch darum, gegen die Bestrebungen der Notstandsstaat-Politiker vorzugehen, die Bundeswehr immer wieder als rettende Kraft nach innen (also gegen das Grundgesetz) zu verkaufen, und das dann auch noch mit der Forderung nach einer weiteren Steigerung der Militärausgaben zu verknüpfen, wie das die Bundes“verteidigungs“ministerin Kramp-Karrenbauer tut. (1)

Diese Gefahren für die Demokratie und die Gesellschaft insgesamt aufzudecken, bedeutet nicht, eine mögliche Gesundheitsgefährdung für die Bevölkerung in Abrede zu stellen. Das sind zwei paar Schuhe, die dringend getrennt behandelt werden müssen. Gesundheitsschutz kann die vorübergehende Einschränkung von Freiheitsrechten rechtfertigen, auch wenn danach die Versuche der Law and Order-Politiker*innen abgewendet werden müssen, die Situation für den dauerhaften Weg in die Diktatur zu nutzen, wie das in Ungarn geschieht: „Das ungarische Parlament hat heute ein sogenanntes ‚Ermächtigungsgesetz‘ beschlossen: Damit kann Ministerpräsident Viktor Orbán künftig mit Verordnungen regieren, ohne dass er für seine Gesetze die Zustimmung des Parlaments braucht. Das Gesetz hat keine Befristung, als Grund dafür gab die ungarische Regierung die massive Ausbreitung des Coronavirus an.“ (2)

Grippe und Triage

Die demokratische Abwehrhaltung gegen ein Rollback der Reaktion führt bei einigen alternativen Kräften dazu, die Gefährlichkeit des Corona-Virus durch den Vergleich mit einer Grippewelle als niedrig einzustufen. Das ist genauso wenig valid, wie die Behauptung derer, die die Dramatik der Lage als geradezu menschheitsbedrohend darlegen. (3)

Die Grippesaison neigt sich seit Frühjahrsbeginn dem Ende zu, denn diese Erkrankung ist an kalte Temperaturen gebunden. Das schon ist bei Corona anders. Die Kranken in Afrika und Brasilien – in einigen Gebieten südlich des Äquators ist zur Zeit Spätsommer – machen ebenfalls deutlich, dass hier ein Unterschied besteht. Dann gibt es die zutreffende Beobachtung, viele mit Corona Verstorbene seien nicht an dem Virus gestorben. Wenn allerdings viele Tote an einem multipathologischen Mix unter anderem mit Corona gestorben sind, dann wird es so sein, dass viele von ihnen ohne Corona noch leben würden. Eine behauptete Harmlosigkeit von Corona ergibt sich aus der Tatsache, dass vorgeschwächte Menschen besonders häufig einen schweren Verlauf haben, dem entsprechend nicht.

Was wir in Europa bisher – außer in Kriegssituationen – nicht kennen, das ist z.B. die Rekordhöhe von beatmungspflichtigen Patienten mit einer schweren Lungenentzündung. Wenn Kliniken, wie es unter anderem aus Straßburg berichtet wird, nicht genug Beatmungsplätze haben, und wenn dies in der erreichbaren Umgebung ähnlich aussieht (4),

dann müssen Ärzte Triage betreiben. Das heißt, sie müssen entscheiden, wer eine Behandlung bekommt und wer nicht. Das sind Entscheidungen über Leben und Tod. Ich kannte den hier angewandten Begriff „Triage“ bisher nur aus der Literatur über Situationen nach einem Angriff mit Massenvernichtungswaffen.

Nicht harmlos oder doch

Ich möchte mich mangels Fachkompetenz nicht darauf festlegen, dass diejenigen, die hier eine harmlose Situation sehen und Politiker*innen vorwerfen, interessengeleitet zu übertreiben, insgesamt richtig liegen. Genauso wenig ist die Fixierung auf das Gegenteil zwingend. Wenn allerdings eine Gefahr im Raum steht, sind vorsorgende und versorgende Handlungen ein Erfordernis der Lebenserhaltung. Vor diesem Hintergrund erscheint die Forderung, dass alle Restriktionen aufgehoben werden müssen, als voreilig und eventuell gefährlich – und das auch für jene, die das fordern.

Runter mit der Rüstung, hoch mit der Daseinsvorsorge!

Die Friedensbewegung fordert Abrüstung zugunsten der Daseinsvorsorge und ein Ende der Sanktionspolitik gegen Iran, Russland, Kuba und andere den Imperialisten unangenehme Staaten. Beides führt auch ohne Seuchengefahr zu massenhaftem Tod; beides gefährdet das ökologische Gleichgewicht in der Biosphäre und in der Gesellschaft. Wir fordern eine Sicherheitspolitik, die das Gesundheitssystem, die Bildung, das Sozialsystem und die Ökologie fördert.

Grundrechte und Ausgangssperre

Die Aufhebung von Restriktionen unmittelbar nach Ende der weit verbreiteten ansteckungsgefährlichen Viruserkrankung ist eine Forderung, die die Demokratiebewegungen einfordern müssen und werden. Eine Ausgangssperre über bisherige Beschlüsse hinaus würde die Menschen und die Gesellschaft zusätzlich schädigen, ohne mehr Sicherheit zu bringen, wie es auch Virolog*innen sagen, die die bisherigen Vorsichtsmaßnahmen nicht kritisieren. (5)

Kooperation statt Gewalt!

Die Corona-Weltkrise zeigt: Wir brauchen weltweit eine Kultur der Kooperation, so wie es Russland, China und Kuba z.B. gegenüber Italien vormachen, die dort medizinische Hilfe anbieten, während selbst benachbarte EU-Staaten im kapitalistischen Modus der Konkurrenz und des Egoismus bleiben. Wenigstens gibt es ein paar Hilfen durch Krankenhäuser aus Deutschland, aber die Grenzsperren, die Lieferverbote für Schutzkleidung in stark betroffene Regionen der EU zeigen, dass kapitalistisches Denken (dazu gehört auch nationaler Egoismus) mit den Lebensinteressen unvereinbar ist. Die Erkrankung hält sich nicht an Staatsgrenzen.

Deutschland schränkt derzeit an seinen Grenzen zwar das Asylrecht ein, hat aber noch Mitte März fast ein Dutzend Flüchtlinge nach Afghanistan abgeschoben. Dem Zynismus des nationalen Egoismus entspricht der schon seit längerem zu beklagende Abbau von Strukturen staatlicher Systeme zum Schutz der Bevölkerung. Diese Politik nennt die Kritik „Strukturelle Gewalt“, da sie zu Krankheit und Tod führt. Die Bundesregierung weiß schon seit Jahren, dass sie für eine Notstandssituation Vorkehrungen treffen muss, etwa einen ausreichenden Bestand von Sicherheitskleidung und Atemschutzmasken bereitstellen. (6)

Kapitale Fehler im System

Das Zusammenstreichen von Strukturen der Gesundheitsversorgung und Bildung sowie Sozialpolitik zugunsten neoliberaler De-Regulierung und Privatisierung ist genauso Gift für das Leben wie die Hochrüstung und eine Politik militärischer Gewalt. Das System des privaten Profits ist zumal im Gesundheitssystem Gift für das Leben. Es ist ein Hohn, wenn nun die besser finanzierte Bundeswehr auch noch in der Innenpolitik Polizeiaufgaben übernehmen soll. Wir werden auf diese Weise an die Militarisierung – nach außen und innen – gewöhnt. In der Corona-Krise wurden die Militäreinsätze in Afghanistan und Mali verlängert. Und im ersten Quartal 2020, also jetzt, will die Bundeswehr darüber entscheiden, mit welchem Jet die Bundeswehr-Beteiligung an der Atomkriegsstrategie der USA ab 2035 sichergestellt werden soll.

Während die weltweiten Militärausgaben – die NATO spricht von Sicherheitspolitik – 1800 Milliarden US-Dollar übersteigen – mehr als die Hälfte davon gehen auf das Konto der NATO-Staaten –, gibt es in Bereichen der Versorgung der Menschen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen skandalöse Defizite, die das Leben gefährden. Sie bringen millionenfachen vorzeitigen Tod und andere Katastrophen mit sich, auch solche ökologischer Natur. (7) Auch die weit über 45 Milliarden Euro für den Militärsektor Deutschlands führen dazu, dass diese Unsummen für die Daseinsvorsorge nicht zur Verfügung stehen.

Fürsorge für Profit oder die Menschen

Sylvia Bühler (Verdi-Bundesvorstandsmitglied, zuständig für Gesundheitspolitik) erklärte am 21. März 2020 in einem Junge Welt-Interview zu den Folgen der Unterfinanzierung des Gesundheitssystems im Angesicht von Corona und in Zeiten von Neoliberalismus, Deregulierung und Privatisierung:

„Die Beschäftigten im Gesundheitswesen wissen sehr genau, was auf sie zukommt. Wir haben frühzeitig gefordert, dass die Kliniken nicht dringende Operationen absagen, um Kapazitäten für die zu erwartenden Coronavirus-Patienten freizuhalten, das Personal zu schonen und die Zeit für Informationen und Schulungen zu nutzen. Doch wir wissen von Klinikbetreibern, die sich anfangs noch darüber hinwegsetzten, obwohl dies längst offizielle Empfehlung war. Das ist das Gegenteil von Fürsorge. Die Beschäftigten in den Kliniken werden wie immer alles daransetzen, Menschenleben zu retten und die Gesundheit ihrer Patienten zu schützen – auch wenn sie dabei über ihre eigenen Grenzen hinausgehen müssen.“ (8)

Hier kann mensch die Petition unterschreiben, die mehr Geld für die Gesundheit statt fürs Militär fordert:

https://www.change.org/p/general-assembly-of-the-united-nations-invest-in-healthcare-instead-of-militarization

Ohne Frieden kippt das Klima

Die weltweite Seuchenverbreitung veranlasste den UNO -Generalsekretär Antonio Guterres zu dem Aufruf, alle Waffen in Kriegen weltweit ruhen zu lassen und sich um das Leben zu kümmern. (9) Sich dem anzuschließen und nachhaltig gegen den Militarismus, gegen Reaktion und Heuchelei sowie gegen Sozialabbau vorzugehen, das ist auch aus ökologischen Gründen vonnöten, denn ohne Frieden kippt das Klima. Aus demselben Grund müssen uns jetzt für eine gerechte, also nachkapitalistische Gesellschaft einsetzen.

Es ist wirklich faszinierend, zu sehen, wie schnell Staaten einschneidende Maßnahmen durchführen können, wenn die Umstände dies nahelegen. Das ginge grundsätzlich auch in Bezug auf die vermutlich weit existenzielleren Herausforderungen im Bereich von Klima und Ökologie. Aber dort bremsen die Öl-, die Auto- und andere Zweige der Industrie.

Die Rettung der Zukunft beginnt jedoch beim zwischenmenschlichen Klima. Wenn wir das jetzt nicht in den Vordergrund stellen, dann wird das Engagement für eine zukunftsfähige Gesellschaft – so ist zu befürchten – scheitern. Konstantin Wecker hat das in seinem Song, den er anlässlich Corona-Krise bei einem Live-Stream spielte, in bewegende Worte gefasst: „Stürmische Zeiten, mein Schatz“. (10)



(1) https://www.epochtimes.de/politik/deutschland/kramp-karrenbauer-sagt-hilfe-der-bundeswehr-im-kampf-gegen-coronavirus-zu-a3185669.html

(2) https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_87620540/neue-gesetze-in-ungarn-viktor-orban-wird-maechtiger-und-hoehlt-demokratie-aus.html

(3) https://www.rubikon.news/artikel/die-panikmacher

(4) https://www.tagesschau.de/ausland/corona-elsass-101.html

(5) https://www.ardaudiothek.de/coronavirus-update-mit-christian-drosten/die-wirksamkeit-von-ausgangssperren-ist-unklar-18-einschaetzung-des-virologen/73444248

(6) https://rp-online.de/nrw/panorama/trotz-risikoplan-von-2012-der-regierung-das-virus-wurde-unterschaetzt_aid-49617029

(7) https://sipri.org/sites/default/files/2019-11/yb19_summary_de.pdf

(8) https://www.jungewelt.de/artikel/374901.gesundheit-im-kapitalismus-das-ist-das-gegenteil-von-f%C3%BCrsorge.html

(9) https://unric.org/de/guterres-aufruf-zu-einem-globalen-waffenstillstand/

(10) https://www.youtube.com/watch?v=02Qov6XwXi0


Erstveröffentlichung: Hinter den Schlagzeilen, Magazin für Kultur & Rebellion, gegründet von Konstantin Wecker