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Afghanistan – Vom Desaster zu neuen Kriegen

Die überwiegend ländliche Bevölkerung, lebt und arbeitet noch unter vorindustriellen Verhältnissen, Quelle: wikimedia
Der folgende Artikel aus der Arbeiterpolitik vom 2. Oktober 2021 setzt sich fundiert in kurzen Thesen mit dem Ende des NATO-Krieges in Afghanistan auseinander.

1. Das Desaster des Westens, d.h. der USA und in ihrem Schlepptau die NATO-Verbündeten ist offensichtlich.
Die Invasion der USA begann kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center am 9. September 2001 und sollte (zumindest in der Propaganda) eigentlich dazu führen, dass
a) die Terrororganisation Al Kaida, der man die Anschläge zur Last legte, und darüber hinaus generell Terrorgruppen zerschlagen werden;
b) die Herrschaft der Taliban in Afghanistan beendet wird;
c) ein prowestliches, demokratisches Afghanistan entsteht, das durch wirtschaftliche Entwicklung auch politische Stabilität erreichen sollte.Die Bilanz nach dem Abzug der US- und NATO-Truppen nach 20 Jahren Krieg ergibt:a) Al Kaida existiert weiter, zum Teil in Nachfolgegruppen; darüber hinaus entstanden in vielen Ländern neue Terrorgruppen, z.B. der IS und damit verwandte Gruppierungen.
b) Die Taliban haben wieder die Macht in Afghanistan übernommen und regieren Afghanistan nach rückwärtsgewandten islamistischen Vorstellungen.
c) Afghanistan ist zerstörter und ärmer als je zuvor.

2. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte sich in Afghanistan nach dem Sturz des Königs 1973 eine Reformbewegung entwickelt, die sich auf die städtischen gebildeten Schichten stützte.
Sie begann, die Stammesfürsten und Großgrundbesitzer zu entmachten und Reformen durchzuführen, zum Beispiel Schulunterricht für Mädchen auf dem Lande. Die Vertreter:Innen dieser anfangs noch vorsichtigen Modernisierungsversuche sammelten sich in der DVPA (demokratische Volkspartei Afghanistans), die sich zwar kommunistisch nannte, aber in der Hauptsache aus städtischen Intellektuellen bestand, von denen etliche in den USA oder der SU studiert hatten und die dort mit dem Marxismus in Berührung kamen. Unterstützung erhielt die DVPA vor allem im weltoffenen Kabul und von Teilen der Armee, nicht zuletzt von gebildeten Frauen. Aber von Beginn an wurde diesen Modernisierungsbemühungen auf dem rückständigen Land, in dem in vielen Provinzen noch feudale Zustände herrschten, erhebliche Widerstände entgegengebracht. Im April 1978 kam die DVPA durch einen Militärputsch an die Macht. Bald schon zerfiel die Partei in zwei sich bekämpfende Fraktionen. Endgültig verspielte die Partei den letzten Rest an Unterstützung, als sich der Flügel durchsetzte, der sich an der Sowjetunion orientierte und der durch von oben verfügte Zwangsmaßnahmen Reformen durchsetzen wollte. Dabei spielte vor allem die Frauenfrage eine entscheidende Rolle: In der Öffentlichkeit wurde die Verschleierung verboten, Frauen wurden mit Polizeigewalt „entschleiert“ und unter Strafandrohungen in die Schulen gezwungen, teilweise wohl auch mit Hilfe von bewaffneten Frauenbrigaden. Diese Rücksichtslosigkeit und Brutalität im Umgang mit der armen und meist nicht alphabetisierten Landbevölkerung, für die die Religion, tradierte Ehrvorstellungen und eine strikte Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen Bestandteile ihres Alltags waren, führten zu Hass und Ablehnung und trieben die „Dorfarmut“ in die Hände der islamischen Reaktion. Genau das machte die Mujaheddin stark und schwächte die dem Namen nach „kommunistische“ Bewegung.

3. Es gab keine Grundlagen in Afghanistan für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft oder für eine stabile Staatsgründung an der Seite des damaligen sozialistischen Lagers.
Als die Sowjetunion in dieser Situation den strategischen Fehler beging, zur Unterstützung der Regierung im Dezember 1979 mit Truppen einzumarschieren, entwickelte sich aus dem Widerstand gegen politische Reformen und Frauenrechte ein nationaler Befreiungskrieg. In der damaligen weltpolitischen Lage, die von der Konfrontation um die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Westeuropa gekennzeichnet war, nutzten die USA die Gelegenheit dazu, die Aufständischen („Mudschaheddin“) massiv militärisch zu unterstützen und mit modernsten Waffen zu beliefern. Aber: Wer das Mittelalter bewaffnet, bekommt ein bewaffnetes Mittelalter, aber keine bürgerliche Demokratie.

4. Der Widerstandskrieg endete nicht nur mit dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989, sondern auch mit der Niederlage der Reformbewegung und der sie tragenden städtischen Schichten.
Der Großteil von ihnen floh in die Nachbarländer oder weiter in den Westen. Die wieder siegreichen Stammesfürsten, die nun bis an die Zähne mit modernen Waffen ausgerüstet waren, begnügten sich nun nicht damit wie in früheren Zeiten, sich in ihre Stammesgebiete zurückzuziehen, sondern sie führten nun Krieg gegeneinander und zerstörten Afghanistan, insbesondere Kabul.

5. Gegen diese gesellschaftliche Anarchie entwickelte sich eine neue Kraft, die Taliban,
eine religiös-militärische Bewegung aus der größten Bevölkerungsgruppe, den Paschtunen. Sie stützte sich innenpolitisch auf die Dorfarmut, außenpolitisch auf ein Rückzugsgebiet in Pakistan, in dem sie in religiösen Schulen (Madrasas) ideologische Unterweisung erhielt, und hatte ein gegen die Stammesfürsten gerichtetes nationales Programm. Nach Lage der Dinge konnte ihre religiöse Ideologie auch nur mittelalterlich sein, da es keine anderen Orientierungspunkte gab. Sie musste auch antiwestlich sein, da der Westen ja die kriegführenden Stammesfürsten unterstützte. Was die Rolle der Frauen betrifft, waren sie noch rückschrittlicher als ihre Gegner. Es gelang dieser Bewegung, mit Unterstützung Pakistans, die Stammesfürsten zu besiegen, das Land weitgehend zu einigen und 1996 ein islamisches Emirat zu errichten.

6. Die Invasion der USA 2001 stützte sich auf die besiegten Stammesfürsten,
die „Warlords“, die den USA quasi die Bodentruppen stellten, und brachte sie wieder an die Macht. Die NATO, also der gesamte Westen, unterstützte nun das Vorhaben, aus Afghanistan ein modernes westliches Land zu machen, in dem Terroristen keinen Unterschlupf mehr finden könnten. „Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“, formulierte der deutsche SPD-Verteidigungsminister 2004. Doch für ein solches Vorhaben hätte man genau die Kräfte gebraucht, die in den siebziger Jahren versucht hatten, Afghanistan zu modernisieren. Gegen diese Kräfte hatte der Westen ja das Mittelalter bewaffnet und sie waren im Bürgerkrieg untergegangen.

7. Für den Aufbau eines demokratischen, bürgerlichen Afghanistan gab es überhaupt keine strukturellen und materiellen Voraussetzungen und so konnte sich lediglich eine korrupte Besatzungsökonomie entwickeln.
Die hereinkommenden Gelder zementierten in der Hauptsache die überkommenen Verhältnisse, indem sich die Stammesfürsten bereicherten und das Volk arm blieb. In den Städten, vor allem in Kabul, entwickelte sich eine Schicht, die von der Besatzung und von der aufgeblähten korrupten Kabuler Regierung profitierte. Tausende, darunter viele Frauen, arbeiteten für die Botschaften, für die Verwaltungen der Regierung, für die vielen NGO´s, für die Luxushotels, für die Militärstandorte, oftmals für ein Vielfaches des Geldes, das ein durchschnittlicher Afghane verdient. So konnte sich eine westlich orientierte Schicht bilden, die aber von dem Schutz der ausländischen Truppen abhängig blieb. Eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung, die ein nationales Bürgertum hätte hervorbringen können, konnte unter diesen Umständen gar nicht stattfinden. Das Tragische ist, dass erneut – diesmal durch das Vorgehen der USA und ihrer Bündnispartner – das Anliegen vieler afghanischer Frauen nach Bildung, Gleichberechtigung und Freiheit diskreditiert wurde, denn „Frauenbefreiung“ war für die Landbevölkerung in der Realität verknüpft mit Zwangsmaßnahmen, Bombardierung, Drohnenkrieg, Flucht und dem Tod unzähliger Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder. Dies gilt sowohl für die Intervention der sowjetischen Armee 1979 als auch für die letzten 20 Jahre westlicher Intervention. Das geheuchelte Interesse an der angeblichen „Befreiung“ afghanischer Frauen von hiesigen PolitikerInnen oder westlichen „FeministInnen“ sollte uns nicht beeindrucken. Für die große Mehrheit der armen afghanischen Frauen haben Besatzung und Krieg nur Leid und Elend gebracht. Auch „Frauenbefreiung“ lässt sich weder herbeibomben noch durch Zwangsmaßnahmen durchsetzen.

8. Die Taliban konnten sich wieder neu formieren als nicht nur gegen die Stammesfürsten gerichtete, sondern auch nationale Befreiungsbewegung.
Mit jedem Luftschlag der westlichen Truppen gegen eine vermeintliche Widerstandszelle, bei der in der Regel viele unbeteiligte Menschen umkamen, verstärkte sich der Zulauf zu den Taliban. Der Aufbau einer afghanischen Armee gelang nur, weil den Soldaten von den USA mehr Sold bezahlt wurde, als sie sonst hätten verdienen können. Allerdings kam der Sold immer weniger bei den Soldaten an, weil die Offiziere das Geld in die eigene Tasche steckten. Dagegen wurden sie von den Taliban bezahlt, wenn sie überliefen. Das korrupte Kabuler Regime, das sich an den reichlich ins Land fließenden Geldern bereicherte, anstatt sie in Wirtschaft, Soziales, Bildung, Infrastruktur zu stecken, galt prinzipiell als Werkzeug ausländischer Mächte, das keinen Anspruch auf Loyalität haben konnte. Als die westlichen Truppen abzogen, gab es also für die Soldaten überhaupt keinen Grund weiter zu kämpfen. So brach das westliche Kartenhaus innerhalb weniger Wochen zusammen.

9. Nach dem Sieg der Taliban sieht es so aus, als habe Afghanistan nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges eine Zentralregierung, die das ganze Land beherrscht und die Stammesfürsten entmachtet hat.
Gleichzeitig aber ist es ärmer als zuvor, wirtschaftlich zurückgeworfen und ohne ausländische Hilfe kaum lebensfähig. Das wird sich der Westen zu Nutze zu machen versuchen. Die USA haben schon die Auslandsguthaben der afghanischen Regierung eingefroren. Deren Freigabe und die Gewährung von Hilfen werden als Erpressungsmittel dienen, um Zugeständnisse zu bekommen. Ein zusätzliches Problem sind islamistische Widerstands- und Terrorgruppen, die gegen die Taliban aktiv sind und die sich gegen sie einsetzen lassen. Der US-Generalstabschef Mark Milley malte Anfang September schon das düstere Bild eines Afghanistans, das zum Hort von Terrorzellen werde. Deren Förderer sitzen in Saudi-Arabien, den Emiraten, der Türkei, also alles prowestliche Staaten. Man kann die Aussage des US-Generals also durchaus als Drohung an die Taliban auffassen.

10. Auch der Stadt-Land-Gegensatz könnte sich verschärfen:
In den größeren Städten hat sich in den verschiedenen Zeitphasen, in den siebziger Jahren, unter den Kommunisten in den 80ern, und dann unter der US-geführten Besatzung ein an bürgerlichen Maßstäben orientiertes soziales Milieu inmitten der allgemeinen Armut entwickelt, das nun einiges zu verlieren hat, aber auch selbstbewusster geworden ist und die Taliban zur Einlösung ihrer jetzigen Versprechen auf Lockerung des Kurses drängen wird (siehe etwa die Demonstrationen der Frauen und ihre Forderungen auf Zulassung in Berufen und an den Universitäten). Die neue Führung steht zumindest unter Druck, darauf Rücksicht zu nehmen, damit ihnen nicht zu viele Fachkräfte und Leute mit internationalen Verbindungen von der Fahne laufen.

11. Die Taliban werden Hilfe brauchen und die Hilfe nehmen, die sie bekommen können.
China wäre eine Möglichkeit. China selbst ist daran interessiert, dass die Taliban nicht den islamistischen Widerstand in Xinjiang unterstützen. Die Taliban könnten das nutzen und den Westen zwingen, ihnen doch zu helfen. Ein prochinesisches Afghanistan wäre für ihn ja eine Schreckensvision, die die Niederlage des Westens noch katastrophaler machen würde. Insofern ist der jetzige Frieden die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

Nach dem Artikel folgen vier Kästen:
  • eine Zeittafel zum besseren Überblick über die Geschehnisse seit den 70er Jahren;
  • zur Unterstützung der aufständischen Mudjaheddin durch die USA ab 1979;
  • Einschätzungen eines in Afghanistan tätigen Arztes,
  • die New York Times über die Fortsetzung des Krieges.
Hier lesen: https://arbeiterpolitik.de/2021/10/afghanistan-vom-desaster-zu-neuen-kriegen/